Marc von Knorring führt ins Diözesanarchiv des Bistums Passau. Dort hat der Historiker der Universität Passau seit November 2022, wie er sagt, freien Zugang. "Wir können hier in Passau absolut frei und unabhängig arbeiten."
Erkenntnisse der Studie "werden sicher schmerzhaft sein"
Andernfalls wäre das Großprojekt, für das er bereits rund 2.400 Personalakten unter anderem aus dem Archiv des Bistums durchforstet hat, wohl auch Makulatur: "Sexueller Missbrauch und körperliche Gewalt – Übergriffe auf Minderjährige durch Kleriker des Bistums Passau 1945–2020" – so heißt die Studie, die zu finanzieren der Passauer Bischof Stefan Oster auf Antrag der unabhängigen Aufarbeitungskommission seines Bistums zugestimmt hat.
"Die Erkenntnisse werden sicher schmerzhaft sein – weil wir sehen werden, welches Leid den Betroffenen zugefügt wurde – und wer die Taten gedeckt und somit direkt oder indirekt mit ermöglicht hat", sagte Oster bei der Auftragsunterzeichnung im Juni 2022. "Aber ich hoffe, es wird für die ganze Kirche von Passau am Ende reinigend sein."
"Warum erst jetzt?" Drei Bistümer kurz vor Auftragserteilung
Als erstes bayerisches Bistum hatte das Erzbistum München und Freising im Februar 2020 die Münchner Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl beauftragt, das Ausmaß sexuellen Missbrauchs im bistumsweiten Verantwortungsbereich zu erschließen. Ein erstes Gutachten der Kanzlei, das bereits im Jahr 2010 fertig geworden war, hält das Erzbistum bis heute unter Verschluss.
Nach dem 2010 ins Rollen gekommenen Missbrauchsskandal und der 2018 vorgelegten bundesweiten MHG-Studie (unabhängige Gesamtstudie zu sexuellem Missbrauch in allen 27 deutschen Diözesen) für die gesamte katholische Kirche in Deutschland gelobten die Bischöfe, sich zusätzlich um Aufarbeitung im eigenen Hoheitsbereich zu bemühen.
Der Blick in die sieben bayerischen Diözesen zeigt jedoch: Für Augsburg, Passau und Würzburg laufen die Arbeiten an einem Gutachten derzeit noch, für die Bistümer Regensburg und Eichstätt sind trotz überall vernehmbarer Absichtsbekundungen noch nicht einmal Gutachten beauftragt worden. In Bamberg soll es bald losgehen. Einzig für das Erzbistum München und Freising liegt ein öffentlich einsehbares Missbrauchsgutachten vor, eben von der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl erstellt.
"Jede Diözese muss sich im Jahr 2024 fragen lassen: Warum erst jetzt? Die Akten waren in den Diözesen vorhanden, man hätte sie selbst anschauen können. Ich nehme an, man hat sie auch angeschaut", sagt Ulrich Wastl im Gespräch mit dem BR.
Unterschiede bei Auftrag- und Geldgebern
Einen Antwortversuch macht Horst Böhm, Sprecher der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Regensburg: Das Münchner Missbrauchsgutachten und jenes, das in Regensburg kurz vor der Auftragsvergabe stehe, seien nicht vergleichbar. Denn in Regensburg soll gerade nicht das Bistum, sondern seine Kommission den Auftrag zu einer Studie entlang von Aktensichtung und ergänzenden Betroffeneninterviews geben, das Bistum – wie in Passau – "nur" zahlen. "Der Vorteil besteht darin, dass Betroffene gegenüber einer Organisationseinheit, die nicht unmittelbar weisungsabhängig ist von einer Diözese, viel offener und freier sind."
Diese Erfahrung habe man schon beim Aufruf zur Beteiligung im Betroffenenbeirat der Diözese gemacht. "Da haben sich so viele gemeldet und immer wieder auch betont: Bei euch sind wir ja jetzt nicht bei der Diözese und deshalb machen wir da auch mit." Wenn nun die Aufarbeitungskommission den Auftrag zu einem Missbrauchsgutachten erstellt, bedeute das aber umgekehrt auch: "Für so eine Kommission, die ja ehrenamtlich arbeitet, ist es schon schwierig, sich in eine Materie einzuarbeiten und dann sinnvolle Gutachten und Studien in Auftrag zu geben. Und das dauert halt eine gewisse Zeit, zumal wenn dann noch inhaltliche Schwierigkeiten dazukommen beim Datenschutz und bei der Akteneinsicht."
Eichstätt und Bamberg vor Auftragsvergabe
Ähnlich sieht es auch im Bistum Eichstätt aus: Dort arbeite die Unabhängige Aufarbeitungskommission derzeit "die Schwerpunkte und inhaltlichen Ausrichtungen eines Aufarbeitungsprojektes" aus, welches das Bistum finanziere.
Einen Schritt weiter ist man im Erzbistum Bamberg. Dort hat die Unabhängige Aufarbeitungskommission bereits Auftragnehmer für die Erstellung eines Gutachtens gefunden, auch hier übernehme das Erzbistum die Kosten. "Wir gehen davon aus, dass der Auftrag in Kürze erteilt werden kann", teilt das Bistum dem BR weiter mit. Die Aufarbeitungskommission wolle zwei Hochschulen mit dem Gutachten beauftragen.
München: Gutachter "aus dem Umfeld von Papst Benedikt" bedroht
Im Erzbistum München-Freising gab es freilich noch keine Unabhängige Aufarbeitungskommission, als das Bistum die Kanzlei von Ulrich Wastl und Co. mit einem Gutachten beauftragte. Für den Anwalt steht fest: "Auch wenn eine Diözese einen Auftrag erteilt, kommt es immer darauf an, wer der Auftragnehmer ist." Eine Anwaltskanzlei könne gegenüber einem Bistum bei möglichen Grenzsetzungen, was Aktenzugänge oder gutachterliche Sachverhaltsnennungen angeht, freilich nochmals anders auftreten.
"Aus Sicht der Gutachter ist es natürlich unerlässlich, eine absolute Unabhängigkeit sicherzustellen", sagt Wastl, setzt aber auch hinzu: "Sie werden das niemals schaffen mit schönen Auftragsbedingungen, sondern da gehört auch sehr viel Rückgrat dazu, dem Auftraggeber, der letztlich auch zahlt, immer wieder klarzumachen, wo seine Grenzen sind und was Unabhängigkeit bedeutet."
Bei der Erstellung des Gutachtens für das Erzbistum München und Freising, in dem es auch um die Verantwortlichkeiten des früheren Erzbischofs Joseph Ratzingers ging, kamen Eingaben indessen von ganz anderer Warte. "Bei unserem zweiten Gutachten wurde versucht, von interessierten Kreisen insbesondere aus dem Umfeld von Papst Benedikt Einfluss zu nehmen", sagt Wastl. "Das ging von rechtlichen Drohungen über direkte Kontaktaufnahmen mit Verantwortlichen der Erzdiözese. Die Drohungen haben uns nicht überrascht – und als Rechtsanwälte sind wir damit auch professionell umgegangen. Meine Befürchtung ist nur: Wenn es nicht gerade Rechtsanwälte sind, die Gutachten erstellen, ist es durchaus möglich, dass sie eingeschüchtert werden."
Augsburg: Studie zu Verantwortlichen "erübrigt sich"
Auch im Bistum Augsburg leben noch zwei frühere Bischöfe, Walter Mixa und Konrad Zdarsa. Auch dort wurde im vergangenen Jahr ein Auftrag zur Erstellung einer Missbrauchsstudie erteilt – allerdings hat die Studie die Betroffenen und Folgen des Missbrauchs für ihre Familien im Fokus, nicht aber strukturelle Fragen und Verantwortlichkeiten. Also konkret: Wo und von wem vertuscht wurde. "Die Studie untersucht nicht nur die Auswirkungen sexualisierter Gewalt im Leben der Betroffenen, sondern nimmt auch Auswirkungen auf deren Familien in den Blick", heißt es auf der Homepage der LMU-Forscher, die den Studienauftrag aus Augsburg bekommen haben.
Dieser Studienzuschnitt sei der Wunsch der Unabhängigen Aufarbeitungskommission im Bistum Augsburg (UAKA) selbst gewesen, teilt die Diözese auf Anfrage mit. Diese beschäftige sich auch an "einer vertieften Auswertung der Daten der MHG-Studie" für das Bistum. Ein eigenes Gutachten, aus dem hervorgeht, wie viele Geistliche im Verantwortungsbereich der Diözese sexualstrafrechtlich in Erscheinung getreten sind und wie die Kirchenleitungen damit umgegangen sind, sei nicht geplant. "Angesichts der seit zwei Jahren laufenden Projektarbeit der UAKA zur vertieften Auswertung der MHG-Studie unter besonderer Berücksichtigung der Verantwortlichkeiten erübrigt sich (...) die Beauftragung eines eigenen juristischen Gutachtens durch das Bistum Augsburg mit entsprechender Fragestellung", teilt das Bistum mit.
"Die forensische Sicht des Geschehens und die gänzlich unabhängige und umfassende Aufklärung auszuklammern ist ein Grundfehler", meint Wastl. Die psychologischen Folgen im Leben von Missbrauchsbetroffenen seien selbstverständlich auch von besonderem Interesse, aber "erst im zweiten Schritt". "Und gerade für Kirchenvertreter wäre es wünschenswert, sich daran zu erinnern, dass das Bekennen von Schuld der Beginn jeglicher Aufarbeitung ist."
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