Wer ist Marius A.? Wie radikal ist er wirklich? Fragen, mit denen sein Verteidiger Serkan Alkan die Sicherheitsbehörden und die Bundesanwaltschaft seit einigen Monaten beschäftigt. Für die Bundesanwaltschaft ist Marius A. ein Dschihadist, der sich von Oktober 2013 bis März 2014 in Syrien bei der Terrororganisation "Jabhat al-Nusra" aufgehalten haben soll. Anwalt Serkan Alkan jedoch kritisiert die aus seiner Sicht dünne Aktenlage. Alkan hat deshalb Zweifel, ob sein Mandant jemals Mitglied der Terrororganisation gewesen ist. Vielmehr sei Marius A. ein humanistisch eingestellter Mensch.
Seit Anfang 2020 per internationalem Haftbefehl gesucht
"Ich habe ja bereits häufiger Terrorverdächtige vor Gericht verteidigt. Aber so einen Fall hatte ich noch nie", sagt Alkan dem Bayerischen Rundfunk. Ermittlungen zeigen: Nach seiner Zeit in Syrien reiste Marius A. viel: Kenia, Südafrika, Singapur. Offensichtlich wollte er sich ein neues Leben aufbauen. In Südafrika machte er einen Pilotenschein, um als Berufspilot zu arbeiten.
"Sein Vater war schon Pilot und er wollte ihn wahrscheinlich nachahmen", sagt Alkan. Die Sicherheitsbehörden hatten den Mann mit Wurzeln im Ostallgäu schon längst im Visier; aber offensichtlich lange Zeit nichts in der Hand, um ihn zu verhaften. In einer Erklärung des Bundesnachrichtendienstes vom Juli 2019 heißt es Alkan zufolge, dass das derzeitige Verhalten keine Rückschlüsse auf eine anhaltende "(militant) islamistische Einstellung" zulasse.
Erst seit 3. Februar 2020 wurde Marius A. per internationalem Haftbefehl gesucht. Seine Reise endete mit der Festnahme im September 2020 am Flughafen der senegalesischen Hauptstadt Dakar.
Wie konnte es soweit kommen? Ermittlungen deuten darauf hin, dass Marius A. nach einem festen Platz im Leben suchte. Der früher im Ostallgäu wohnhafte Beschuldigte reiste nach dem Abitur im Jahr 2010 nach Kenia aus, wo er zum Islam konvertierte. Er kehrte 2012 nach Deutschland zurück, um in Kleve in Nordrhein-Westfalen Agrarwissenschaften zu studieren. In der Folge, da sind sich die Ermittler sicher, radikalisierte sich der 30-Jährige – und zwar innerhalb kürzester Zeit.
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Bundesanwaltschaft hat Anklage erhoben
Jetzt in Nordrhein-Westfalen in Untersuchungshaft hat die Bundesanwaltschaft vergangene Woche Anklage gegen Marius A. erhoben. Es sieht ganz danach aus, dass die Anklage vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf zur Hauptverhandlung zugelassen wird. Den Ermittlungen zufolge habe sich Marius A. im Jahr 2013 zunehmend mit der Berichterstattung über den Syrienkonflikt beschäftigt. Er sei viel im Internet unterwegs gewesen, heißt es.
Schließlich wollte er, so der Vorwurf der Bundesanwaltschaft, das Assad-Regime bekämpfen. Dafür habe er im Oktober 2013 sein Studentenzimmer in Kleve gekündigt und sei Mitte Oktober 2013 über die Türkei zur Jabhat al-Nusra nach Syrien ausgereist. Damals galt die Gruppe noch als Ableger von Al-Qaida. Inzwischen ist sie Teil der Hai`at Tahrir al-Sham (HTS), einem Zusammenschluss verschiedener dschihadistischer Gruppierungen mit mehreren Tausend Mitgliedern, der sich zunehmend vom Kern von Al-Qaida emanzipiert.
Hat der Beschuldigte eine Kampfausbildung absolviert?
Die Bundesanwaltschaft ist davon überzeugt, dass Marius A. bei der Jabhat al-Nusra eine rund einmonatige Kampfausbildung absolviert und auch an mindestens einem Kampfeinsatz teilgenommen hat. Sie stützt sich vor allem auf die Aussagen eines ehemaligen Mitbewohners im Studentenwohnheim. Über internetbasierte Videotelefonie habe Marius A. ihm von einem Kampfeinsatz berichtet.
Anwalt Alkan hält diese Beweislage aber für dünn. Er beruft sich auf eine Notiz des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 3. Mai 2019. Laut dieser Notiz habe sich der 30-Jährige "aller Wahrscheinlichkeit" nach der Jabhat al-Nusra angeschlossen. Doch aller Wahrscheinlichkeit nach sei eben nicht bewiesen, sagt der Anwalt.
Mitangeklagt sind drei Männer, die im Verfahren gegen Marius A. zunächst alle als Zeugen behandelt wurden. Sie sollen Anfang 2014 Geld an Marius A. in die Türkei überwiesen haben. Marius A. sei in die Türkei gereist, um das Geld zu holen. Die Ermittler sind davon überzeugt, dass der 30-Jährige die Auszahlung nutzte, um sich Lebensmittel und ein Nachtsichtgerät zu beschaffen.
Anwalt: Marius A. ein weltoffener Mensch
Anwalt Alkan hat "große Zweifel, ob Marius A. jemals radikal war. Vielmehr war er ein Abenteurer". Sein gesamtes Leben über sei er schon gereist – rund 60 Länder dieser Welt habe er bereits betreten. Marius A. wurde in Oberbayern geboren. Zeitweise lebte er mit seiner Familie auf Mallorca und in Vietnam.
Ein weltoffener Mensch sei Marius A., der gerne Dinge anderer Kulturen annehme, sagt Verteidiger Alkan. Im Studentenwohnheim habe sich sein Mandant drei Wochen mit Syrien beschäftigt und dann seinen Freunden gesagt, er gehe jetzt, um zu helfen. In Syrien war er aber wohl nicht glücklich.
"Es gibt Akten-Bestandteile, woraus hervorgeht, dass er sich wohl bei den Mitangeklagten gemeldet hat und gesagt haben soll: Hier ist die reinste Katastrophe. Kommt bloß nicht runter. Die schlachten sich alle gegenseitig ab", berichtet Alkan. Der 30-Jährige habe sich deshalb entschieden, Syrien zu verlassen.
Marius A. wollte seine Ruhe haben
Ende Mai hatte Verteidiger Alkan vor dem Bundesgerichtshof (BGH) vergeblich Beschwerde gegen den Haftbefehl eingelegt. Die Behörden sehen Fluchtgefahr. Das geht aus dem BGH-Beschluss hervor, der dem BR vorliegt. Seit Abbruch seines Studiums habe sich Marius A. lediglich kurzfristig in Deutschland aufgehalten, heißt es etwa laut BGH: "In Kenntnis der gegen ihn geführten Ermittlungen teilte er mit, er wolle nicht nach Deutschland kommen, verstehe den Tatvorwurf nicht und wolle seine Ruhe haben." Nach Deutschland, so der BGH, habe Marius A. keine Verbindungen, die ihn an einer Flucht hindern könnten.
Anwalt Serkan Alkan weist aber darauf hin, dass der Vater des 30-Jährigen bis heute im Ostallgäu wohnt. "Der Vater würde seinen Sohn sofort bei sich zu Hause aufnehmen", sagt der Verteidiger.
Schwierige Haftzeit im Senegal
Acht Monate verbrachte Marius A. in Auslieferungshaft im Senegal. "Die Zustände im Gefängnis waren unmenschlich und katastrophal", sagt Alkan. "Mein Mandant musste sich die Zelle, welche wenige Quadratmeter groß war, mit vielen Mitinhaftierten teilen, dass die Personen Fuß-an-Kopf schlafen mussten." Die Hygiene sei zu keiner Zeit gewährleistet gewesen. Die Gefangenen hätten sich um das Essen schlagen müssen. Alkan geht davon aus, dass diese Haftzeit angerechnet wird.
Hintergrund ist die sogenannte "Anrechnung von im Ausland erlittener Haft" nach Paragraf 51 des Strafgesetzbuches. Danach werden Aufenthalte in einem ausländischen Gefängnis wegen schlechterer Bedingungen als hierzulande mit einem Faktor bemessen und bei einer Haftstrafe in Deutschland angerechnet. Alkan würde einen Tag Haft im Senegal wie mindestens drei Tage Haft in Deutschland berechnen. Im Falle anderer sogenannter Rückkehrer von islamistischen Terrorgruppen haben Gerichte solche Forderungen der Verteidiger schon akzeptiert. Viel blieb dann nicht mehr von den noch zu verbüßenden Haftstrafen übrig.
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