Der Gang zum Tatort im Park Schöntal in Aschaffenburg fällt Jossef Naserie unfassbar schwer. Er steht vor dem Meer aus Kerzen, Blumen und Stofftieren, ihm treten Tränen in die Augen. Dann beginnt Naserie mit geöffneten Händen zu beten, sein Blick ist zum Himmel gerichtet. Der 51-Jährige ist vor knapp 30 Jahren aus dem afghanischen Kabul nach Aschaffenburg gekommen, mittlerweile hat er die doppelte Staatsbürgerschaft. Sofort nach dem Messerangriff am Mittwoch sei ihm klar gewesen, dass etwas passieren müsse. Ein 28-jähriger Afghane soll einen zweijährigen Jungen und einen Mann getötet haben.
Afghanen nach Angriff in Aschaffenburg in Sorge
Naserie ist Vorstand von "Mahdia", dem "Deutsch-afghanisch 'schiitischen' Kulturverein" in Aschaffenburg. Am Freitag haben Mitglieder einen großen Kranz mit weißen Blumen niedergelegt – mit den Worten "In tiefer Trauer. Afghanischer Kulturverein Aschaffenburg". "Ich musste so sehr weinen, ich habe Gänsehaut bekommen. Ich stand dort für den getöteten Jungen und den Mann", so Naserie.
Doch zur Trauer kommt auch die Angst, dass die Tat alle Afghaninnen und Afghanen unter Generalverdacht stellen könnte. Diese Sorge sei gerade in der afghanischen Community weltweit präsent: "Man weiß schon: Wenn die Nationalität einmal in den Medien genannt wird, hat das traurige Konsequenzen", so Naserie. Viele würden die Tat auf eine ganze Nation beziehen.
Offener Brief der afghanischen Community in Deutschland
Dagegen gibt es auch einen offenen Brief der afghanischen Community [externer Link], den der Aschaffenburger Verein unterstützt. Darin heißt es: "Wir hoffen, dass die Errungenschaften der afghanischen Migrantengemeinschaft in Deutschland nicht durch das kriminelle Verhalten eines Einzelnen oder einiger weniger Personen in den Hintergrund gedrängt werden." Dafür hat sich auch Zischan Mehmood, der Imam der Aschaffenburger Ahmadiyya-Gemeinde, beim ökumenischen Gedenkgottesdienst am Sonntag ausgesprochen: "Wir dürfen niemals zulassen, dass Trauer und Schmerz uns nun auseinanderreißen."
Dieser Wunsch ist auch bei den Trauernden im Park Schöntal spürbar. Ein Mann sagt, er habe den Eindruck, die Tat werde politisch sehr stark instrumentalisiert. Eine Frau ergänzt: "Der Wahlkampf, der jetzt daraus entsteht, macht mich traurig." Ein anderer Mann sagt: "Die Tat hat doch überhaupt nichts damit zu tun, dass er Afghane ist."
Afghanisches Mädchen entschuldigt sich unter Tränen
Um diese Einordnung ging es auch der zwölfjährigen Fatima, die am Samstag nach einer Gedenkfeier in Aschaffenburg spontan auf die Bühne gekommen ist. Unter Tränen hat sie zu den Menschen gesprochen: "Ich entschuldige mich bei der Mutter des Kindes. Menschen denken: Weil ich ein Afghane bin, dass ich böse bin." Aus der Menschenmenge sind Nein-Rufe zu hören. "Keiner hier ist böse auf dich", sagt eine Frau aus dem Organisationsteam. "Ich wollte nur sagen, dass die ganzen Afghanen nicht böse sind, nur manche", so Fatima.
Naserie kennt das Video. Es fällt ihm schwer, es anzuschauen. Ihm breche es das Herz, dass das Mädchen sich schuldig fühle und Angst habe. Es sei Zeit für die Gesellschaft, jetzt zusammenzustehen. Besonders für seine Kinder hofft der 51-Jährige, dass die Tat nicht instrumentalisiert werde.
Integrationsbeiräte gegen Instrumentalisierung im Wahlkampf
Auch die Arbeitsgemeinschaft der Ausländer-, Migranten- und Integrations(bei)räte Bayerns (AGABY) mit Sitz in Nürnberg hat dazu aufgerufen, das Leid in Aschaffenburg nicht zu instrumentalisieren. Solche Taten seien ein gefundenes Fressen für die Rechtsextremen, um Migration zu verdammen und ihren rassistischen Diskurs zu verbreiten. Die Menschen bräuchten jetzt echte Lösungen für die demographische und wirtschaftliche Krise, für den Arbeitskräftemangel, die Renten-, Gesundheits- und Umweltpolitik, für Wohnungsnot und die Friedenssicherung, so AGABY.
Zum Hören: Afghanen trauern um Opfer des Messerangriffs
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