Die Zeit in Strüth sei die schönste in seiner Kindheit gewesen, erinnert sich Shlomo Arad zurück. Und Asher Bar-Nir sagt: "Als wir dort ankamen, war es, als würden wir geradewegs in den Himmel kommen. Bislang war unser Leben von Hunger bestimmt. Wir hatten immer Hunger. Plötzlich kamen wir an einen Ort, wo es Kakao gab und Brot, weißes Brot. Es war wirklich wie im Paradies." Und Gad Willmann beschreibt die Zeit in Strüth als eine Zeit des "Aufatmens".
Nach dem Zweiten Weltkrieg organisierten zionistische Gruppen von Osteuropa aus Kindertransporte nach Palästina. Auf ihrer Reise ins Gelobte Land strandeten im Januar 1946 über 300 zumeist ungarische Kinder und Jugendliche in Mittelfranken: Sie hatten mit viel Glück die Shoah überlebt, nun fanden sie vorübergehend Zuflucht im Gebäude der Lungenheilanstalt Strüth bei Ansbach. Wo die Diakonie Neuendettelsau heute eine Spezialklinik für Lungenerkrankungen betreibt, fand sich damals auf dem Gelände eines Sanatoriums das erste jüdische Children's Center im besetzten Deutschland, betrieben vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen.
Jüdische Kinder, wartend im Land der Täter
Da die britische Mandatsmacht in Palästina Juden direkt nach dem Krieg die Einreise verwehrte, mussten die Kinder und Jugendlichen im Land der Täter ausharren, so wie viele erwachsene Überlebende auch. Denn den Staat Israel gab es zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Vor allem in der amerikanischen Zone entstanden "DP-Lager", Auffanglager für "Displaced Persons", heimatlose Überlebende der NS-Gräuel.
Nach dem Krieg strandeten allein in Bayern weit über 100.000 solcher DPs. Und die mussten irgendwo untergebracht werden. Die US-amerikanische Militärregierung beschlagnahmte dafür zahlreiche Immobilien in ganz Bayern: Kasernen, Bauernhöfe, Klöster, Krankenhäuser, wo die sogenannten Displaced Persons unterkamen. So entstanden Dutzende kleinere Kibbuzim, aber auch große Lager etwa in Landsberg am Lech oder Föhrenwald bei Wolfratshausen südlich von München.
Forschung geht von 1,5 Millionen ermordeter jüdischer Kinder aus
Verena Buser leitet als Historikerin am Western Galilee College in Israel das Projekt "Children after War, Holocaust and Genocide", das sich mit dem Schicksal jüdischer Kinder nach Krieg und Shoah befasst. Sie sagt: "Die akademische Forschung geht davon aus, dass circa 1,5 Millionen jüdische Kinder während der Shoah ermordet wurden. Das heißt allein aufgrund der Tatsache, dass sie jüdisch sind."
Dennoch haben tausende jüdische Kinder den Vernichtungswahn der Nationalsozialisten überlebt – etwa weil sie von ihren Eltern noch rechtzeitig per Kindertransport nach Großbritannien geschickt oder in die Obhut christlicher Familien oder Klöster gegeben wurden, wo sie unter falschem Namen lebten. Andere tauchten unter.
17 Lager für unbegleitete minderjährige Geflüchtete
Die Historikerin Verena Buser sagt, nach der Befreiung Deutschlands hätten in vielen DP-Lagern wie in Föhrenwald, Landsberg und Feldafing Kinder mit ihren Eltern oder Angehörigen eine erste Bleibe gefunden. "Es gab aber auch eine ganz große Zahl unbegleiteter Minderjähriger, elternloser Kinder und Jugendlicher, für die extra die sogenannten Children's Center, United Nations Children’s Center eingerichtet wurden." Allein in der US-amerikanischen Zone habe es 17 Lager für Kinder gegeben, elf davon ausschließlich für jüdische Kinder. Das erste dieser Art war eben das in Ansbach, in Strüth.
Die meisten dieser Kinder sind inzwischen verstorben. Nürnberger Historikern gelang vor Jahren, einige der ehemaligen Bewohner des Waisenhauses in Israel aufzuspüren und zu interviewen, etwa Asher Bar-Nir. Es habe dort Unterricht gegeben, erzählte er, Sportangebote und Theater. "Wir spielten mit den Kindern, kümmerten uns um sie. Ja, wir waren so etwas wie ihre Eltern." Den Alltag hätten sie sich selbst organisiert nach ihren Vorstellungen. "Wir lebten in einer anderen Welt, in einer eigenen, unabhängigen Gesellschaft."
Und trotzdem: Vor allem nachts seien die Ängste wieder hochgekommen, die Kinder seien wieder eingeholt worden von den schrecklichen Erlebnissen, die hinter ihnen lagen, erinnerte sich einst die inzwischen ebenfalls verstorbene Leah Gadisch. Sie arbeitete damals als Betreuerin und Hebräischlehrerin in Strüth – obwohl auch sie kaum älter war als ihre Schützlinge: "Die Kinder hatten viele Ängste und Depressionen. Sie haben ins Bett gemacht. Obwohl die Kinder tagsüber fröhlich und ausgelassen waren, spürte man deutlich, dass sie ihre Eltern verloren hatten."
Ein unbekanntes Kapitel bayerische Geschichte
In Strüth selbst, wo Hunderte traumatisierte Kinder und Jugendliche nach Jahren der Verfolgung, des Hungers und der Zwangsarbeit wieder zurück in ein einigermaßen normales Leben gefunden haben, erinnert heute nichts mehr an dieses besondere Kapitel der deutschen Geschichte. Der jüdische Neubeginn im Land der Täter ist in Ansbach praktisch unbekannt, bestätigt der langjährige Stadtarchivar Werner Bürger. "Mir ist in den ganzen, vielen Jahren meiner Tätigkeit eigentlich nie etwas bekanntgeworden." Auch Unterlagen gebe es nicht in der Stadt Ansbach.
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