Im Oktober 2020 ist Waldarbeiter Anton Semmler mit Markierungsarbeiten beschäftigt. Da reflektiert etwas das Sonnenlicht. Semmler geht hin und will es sich näher anschauen. Es ist ein Knochen. Zunächst nichts Ungewöhnliches in einem Wald. Doch Semmler erscheint er zu groß für ein Tier. "Ich habe dann die Spraydose als Vergleich daneben gelegt und ein Foto gemacht und meinem Chef geschickt", erzählt er. Semmlers Chef, Rudolf Habereder vom Forstbetrieb Kipfenberg, verständigt die Polizei. Die Ermittlungen beginnen. "Wir haben uns natürlich das Umfeld angeschaut, aber da war nichts mehr", erzählt der Waldarbeiter. Heute weiß er: Die sterblichen Überreste des Mädchens befanden sich rund 300 Meter weiter in einer Felsspalte.
Erst im November 2021 - ein Jahr später - die Nachricht: Der von Semmler gefundene Knochen stammt von der seit 1995 vermissten Sonja Engelbrecht. Die damals 19-Jährige war am 10. April 1990 in München spurlos verschwunden. In den Cold Case kommt Bewegung.
Fund der Leiche im März 2022
Doch die erste Suche im Kipfenberger Wald bleibt erfolgslos. Die Polizei bricht die Suche nach einiger Zeit ab. Die Witterung ist zu schlecht. Im Frühjahr 2022 rücken die Beamten wieder mit vielen Einsatzkräften an. Diesmal mit Erfolg: In einer tief im Wald gelegenen Felsformationen finden sie die sterblichen Überreste der Münchnerin. Dann war es lange Zeit wieder still um die Ermittlungen. Dann gab die Polizei aber mehr Details bekannt - die für viel Wirbel in der kleinen Gemeinde Kipfenberg sorgten.
Viel Spekulation im Ort
Der Markt Kipfenberg liegt idyllisch im Altmühltal. Er gilt als geographischer Mittelpunkt Bayerns. Über dem Ort thront die Burg. Durch die Ortsmitte schlängelt sich die Altmühl - Bayerns langsamster Fluss. An den Hängen des Tals dichter Wald. Rund 6.000 Menschen gehören der Gemeinde an - viele schon ihr ganzes Leben. Brisant wurde der Fall für die Gemeinde Kipfenberg in diesem Frühjahr. Da teilte die Polizei mit, dass sie davon ausgeht, dass der Täter einen Bezug zu Kipfenberg oder Region gehabt haben musste - zu speziell sei der Ablageort im Wald.
"Schon ein kleiner Schock" - nennt Bürgermeister Christan Wagner (SPD) diese Vermutung. "Man muss davon ausgehen, es kann ein ganz Fremder sein, aber es kann auch dein Nachbar sein." Damit beschreibt er wohl die Gedankenwelt vieler in Kipfenberg.
War es einer aus dem Ort oder ein Fremder?
Zahlreiche Medienberichte folgten und viele Hinweise gingen bei der Polizei ein. Sogar konkrete Namen wurden der Polizei genannt. "Das finde ich fies. Das wird man nicht mehr los. Und den kannte ich gut, da kann ich mir nicht vorstellen, dass er damit was zu tun hatte", erzählt ein Mann. Viel Spekulation in dem knapp 6.000-Einwohner großen Ort. "Wir wollen nicht als Mörderdorf bekannt werden", meinte eine Frau. Damit habe niemand gerechnet, sagt eine Frau. Geredet würde hier und da immer wieder über den Fall. "Man liest in der Zeitung drüber, man spricht drüber und wir machen uns schon Gedanken", erzählt eine Frau. "Hier passiert ja sonst nichts. Und dann so was", berichtet ein Passant. Alles Kipfenberger, die schon in den 1990er Jahren hier gelebt haben.
Auch wenn der Fall nicht den Alltag beeinflusst, bei einem Ortsbesuch wird klar: Die Menschen beschäftigt der Fall. Allem voran die Frage nach dem Wer: "Klar, macht man sich Gedanken, wer käme da in Frage. Aber mir fällt da niemand ein", erzählt eine Frau. "Hoffentlich niemand, den ich gekannt habe", meint ein anderer. Das Gedankenkarusell der Kipfenberger dreht sich schnell. War es einer aus dem Ort oder doch ein Fremder?
Ablageort im Wald - vielen unbekannt
Der Fundort der Leiche spricht eher für jemanden aus dem Raum Kipfenberg. Ein zunächst noch asphaltierter Weg führt in den Wald. Nach einigen hundert Metern wird daraus ein Schotterweg. Links und rechts nichts als Wald. Wege, die abzweigen. Da kann man schnell die Orientierung verlieren. Der Weg führt immer tiefer in den Wald. Dann endet er - Mitten im Nirgendwo. Vom Weg bis zur Felsformation sind es noch gut 300 Meter. In den 1990er Jahren war es noch weiter, da endete der Weg schon viel früher, erzählen die Mitarbeiter der Bayerischen Staatsforsten. Dann quer durch den Wald. Das Laub liegt zentimeterhoch auf dem Waldboden. Wenn man hier langgeht, muss man über Äste und Wurzeln steigen.
Die Stelle, an der die Polizei die Leiche fand, ist nicht leicht zu erreichen. Der versteckte Platz der Felsformation ist vielen Kipfenbergern nicht bekannt. Und genau das befeuert die Spekulationen um den Täter. "Wir sind viel im Wald spazieren, aber hierher bin ich noch nie gekommen", erzählt ein Kipfenberger. "Wer kommt hier schon her? Vielleicht Kinder zum Spielen. Aber das ist schon arg weit weg von den Ortschaften", meint ein anderer. Er ist sich sicher: Ohne den Wald zu kennen, geht da keiner auf gut Glück hin. Unwegsame Wege, womöglich im Dunkeln - ohne zu wissen, wohin. "Das macht doch keiner", meint er. Fest steht: Der Platz war so gut gewählt, dass er 28 Jahre unentdeckt blieb.
Weitere DNA-Proben entnommen
Ruhiger wird es erst mal wohl nicht: Erst vor wenigen Tagen war wieder ein großer Aktionstag im Raum Kipfenberg. Mehrere Ermittler der Mordkommission aus München und der Kriminalpolizei aus Ingolstadt seien am Mittwoch als einem "großen Aktionstag" im Raum Kipfenberg tätig gewesen, so Stephan Beer, Leiter der Münchner Mordkommission. Grund: Es waren neue Hinweise bei der Polizei eingegangen.
Insgesamt sind die Ermittler am Mittwoch sieben neuen Spuren nachgegangen. Neben konkreten Hinweisen auf Personen waren darunter auch Bau- beziehungsweise Malerfirmen. Der Hintergrund: Die skelettierte Leiche von Sonja Engelbrecht war in Plastikfolien und -planen eingewickelt, wie sie bei Renovierungsarbeiten verwendet werden. Auch Reste einer weißen Wandfarbe konnten identifiziert werden.
Die Polizei entnahm außerdem fünf weiteren Männern DNA-Proben. Alle hätten in die Entnahme der DNA eingewilligt, teilt die Polizei mit. Die Proben werden nun mit genetischen Fingerabdrücken verglichen, die am Fundort der sterblichen Überreste von Sonja Engelbrecht sichergestellt werden konnten. Ergebnisse liegen noch keine vor. Bereits im Herbst 2022 hatte die Polizei schon einmal 50 Männer zu einem Speicheltest gebeten, darunter Jagdpächter, Waldarbeiter und Förster. Das Ergebnis war damals negativ.
Hoffnung auf Klärung des Falls
Die Polizei bittet nach wie vor um Hinweise zu der markanten Decke, die am Ablageort der Leiche gefunden wurde. Und zu den Folien und Planen, die bei Maler- oder Renovierungsarbeiten benutzt wurden und an denen weiße Wandfarbe sichergestellt wurde. Für entscheidende Hinweise hat die Polizei eine Belohnung in Höhe von 10.000 Euro ausgesetzt. Die Hoffnung, dass der Fall noch geklärt werden kann, ist groß. "Ich wünsche mir, dass man den- oder diejenigen, die das verbrochen haben, findet. Alleine schon wegen der Gerechtigkeit und für die Angehörigen, damit sie endgültig Gewissheit haben, was passiert ist" , meint Bürgermeister Wagner. Dann, meint er, würde auch wieder Ruhe in Kipfenberg einkehren.
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