Der Sicherheitsexperte Peter Neumann vom King’s College London hat als Reaktion auf den mutmaßlichen Anschlag auf das israelische Generalkonsulat in München eine europäische Gefährderdatei gefordert. "Hier gibt es tatsächlich so eine Art Lücke", sagte Neumann im Interview mit BR24 (im Video oben finden Sie das vollständige Interview).
"Kennen nicht mal die Leute, die eine Stunde entfernt wohnen"
"Wie kann das sein, dass ein Attentäter, der eine Stunde entfernt von München lebt, aus dem Salzburger Land kommt, dass die bayerischen Behörden von dem überhaupt nichts wissen? Das ist ein Problem der europäischen Zusammenarbeit", kritisiert Neumann.
Es müsse eine Datei geschaffen werden, über die alle europäischen Länder Zugriff auf die Namen, Identitäten und Geschichten von Gefährdern in anderen Ländern haben. "Wir leben in einem Europa der mehr oder weniger offenen Grenzen. Und wir kennen noch nicht mal die Leute, die eine Stunde entfernt wohnen und für uns eine Gefahr sein können. Das muss sich ändern", fügte Neumann hinzu.
Etwa zwei Drittel der Terrorverdächtigen sind Teenager
Bemerkenswert sei die Tatsache, dass es sich erneut um einen sehr jungen Attentäter handele. Dies beobachte er "seit einiger Zeit mit großer Besorgnis". Ungefähr zwei Drittel der Terrorverdächtigen, die in den letzten zehn Monaten in Europa verhaftet wurden, wären Teenager unter 19 Jahren gewesen. "Das war vor zehn Jahren etwas, da hat man sich gewundert. Heute ist es die Regel. Und deswegen müssen wir auch unsere Präventionsmaßnahmen, Psychologiemaßnahmen, Frühwarnsysteme viel stärker auf ganz, ganz junge Attentäter ausrichten."
Bezüglich der Gruppe Hayat Tahrir al-Sham (HTS), mit der der Täter offensichtlich sympathisierte, sagte Neumann, diese Gruppe sei vor allem in der syrischen Provinz Idlib aktiv und werde oft als syrischer Ableger von Al-Qaida beschrieben.
"Dschihadismus wieder größte Terrorismus-Bedrohung"
Auf die Frage, wie Neumann die Sicherheitslage 1972 nach dem Olympia-Attentat und heute vergleichen würde, sagte der Sicherheitsexperte, 1972 habe es eine Art Zeitenwende gegeben. Damals habe sich Deutschland zum ersten Mal gesagt, "wir haben ein Problem, auch wir können Opfer von Terroristen werden. Wir müssen jetzt solche Organisationen wie die GSG9 aufbauen, damit wir eine Möglichkeit haben, uns zu wehren."
Jetzt seien wir wieder in einer Situation, in der viele Leute geglaubt hätten, "dass mit dem IS und mit dem Dschihadismus ist vorbei", sagte Neumann. Aber diese Art von Terrorismus käme wieder zurück. "Wir müssen uns darauf vorbereiten. Wir müssen dieses Thema wieder priorisieren. Und wir müssen auch laut sagen können, dieser Dschihadismus, von dem wir jetzt mehr gesehen haben, das ist wieder die größte Terrorismus-Bedrohung in Deutschland."
Angst ist niemals ein guter Ratgeber
Angesprochen auf die Frage, ob sich derzeit eine neue Form der Angst auszubreiten scheine, sagte Neumann, Angst sei niemals ein guter Ratgeber. Man dürfe die Tatsache nicht vergessen, "dass selbst, wenn jetzt mehr terroristische Anschläge passieren, die Gefahr, bei einem terroristischen Anschlag ums Leben zu kommen, nach wie vor sehr, sehr, sehr gering ist". Es gebe viele alltägliche Gefahren, die weitaus bedrohlicher seien als der Terrorismus. Gleichzeitig sei es aber dennoch so, dass terroristische Bedrohungen zugenommen hätten, vor allem in den letzten zwölf Monaten. "Das lässt sich nicht mehr leugnen."
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