Frühmorgens landet Roland Graf am Flughafen München. Vier Tage war er für seine Aufgabe unterwegs. Die lautet: Stammzellen zu einem Patienten bringen. Diesmal war Graf in den USA – wo genau, darf er nicht sagen. Denn der Empfänger der Stammzellenspende, die er ein paar Tage zuvor auf einem anderen Kontinent entgegengenommen hat, soll anonym bleiben. Ebenso wie der Spender.
Seit sieben Jahren Lebensretter
Vor sieben Jahren ist Roland Graf als Fluglotse bei der Bundeswehr in den Ruhestand gegangen. Seither fliegt der sportliche Mann Stammzellen um die Welt. Der 63-Jährige ist dafür der perfekte Kurier: Er kennt den Flugbetrieb aus seinem Beruf, spricht gut Englisch und hat ein großes Organisationstalent, denn bei seinen Missionen darf nichts schiefgehen.
72 Stunden ohne Schlaf – den Koffer immer im Blick
Es ist lebenswichtig, dass der ihm anvertraute Koffer mit seinem gekühlten Inhalt innerhalb von weniger als 72 Stunden notfalls bis ans andere Ende der Welt kommt. Nie darf Graf den Koffer aus den Augen lassen. Schlaf ist untersagt. Hindernisse wie Staus, Flugausfälle, Baustellen muss er überwinden.
International genormte Anforderungen an Stammzellenkuriere
Roland Graf und 500 weitere Stammzellenkuriere sind für die Münchner Firma "OnTime Courier GmbH" unterwegs. Rund 4.500-mal im Jahr bringen sie Stammzellen vom Spender zum Empfänger. Schon seit drei Jahrzehnten arbeitet "OnTime" für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS).
Doch nicht immer ist die DKMS der Auftraggeber für einen Stammzellentransport. Je nach Zielland kann auch es sein, dass eine Transplantationsklinik den Auftrag zum Transport erteilt. Wenn die Patientenklinik den Kurier beauftragt, übernimmt die Klinik die Kosten. Wenn die DKMS den Kurier beauftragt, stellt die DKMS die Kosten der Patientenklinik in Rechnung.
Anonymität der Spender und Empfänger oberstes Gebot
Die Anonymität der Spender und der Empfänger ist oberstes Gebot. Das betont die DKMS, und das hat auch Stammzellenkurier Roland Graf verinnerlicht: "Wir reden nicht darüber, wo wir unsere Reise starten und wo es hingeht. Auch die Kliniken achten darauf, dass selbst wir die Namen der Spender und Empfänger nicht erfahren. Meist findet die Übergabe in einem Teil der Kliniken statt, der weitab liegt von den Operationsräumen."
Viele Regeln für den Transport der lebensrettenden Fracht
Graf übernimmt jeden Monat mindestens einen Stammzellentransport. Als Kurier war er schon auf allen Kontinenten. Bei seinen oft kräftezehrenden Reisen darf er seinen 8,5 Kilo schweren Koffer nie aus den Augen lassen. Der Koffer ist sein Handgepäck, gut gekennzeichnet mit einem roten Kreuz als medizinischer Transport, der nicht bestrahlt werden darf, also auch keine Metall-Schranke passieren darf. Im Flugzeug liegt der Koffer zu seinen Füßen.
Auch im Hotel trägt der Stammzellenkurier den Koffer immer bei sich: "Stellen Sie sich vor, es gibt Feueralarm und ich muss das Hotel räumen ohne Koffer. Unvorstellbar! Deshalb bin ich zum Beispiel beim Frühstücksbuffet immer recht eingeschränkt – durch den Koffer in der Hand." Wenn es am Flughafen mal zeitlich knapp wird, boxt sich der ansonsten zurückhaltende Manchinger auch in der Schlange nach vorne. "Die meisten Menschen haben Verständnis, wenn ich ihnen sagen, worum es geht", sagt Graf.
Mit Taxi oder öffentlichen Verkehrsmitteln
Er kennt die vielen Einschränkungen, die für Stammzellenkuriere gelten, in- und auswendig. So darf er nicht selbst am Steuer eines Wagens sitzen oder einfach mit einer anderen Person mitfahren. Er muss immer öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder ein Taxi nehmen. Im Taxi muss er den Koffer bei sich behalten und darf ihn nicht in den Kofferraum legen.
"Bei einem Unfall könnte der Kofferraum verkeilen. Vielleicht muss ich rasch aussteigen, wenn das Auto zu brennen anfängt. Der Koffer muss auf jeden Fall bei mir sein", erklärt Graf die vielen Regeln. Sie haben alle dasselbe Ziel: die Stammzellenspende möglichst sicher und schnell zum Empfänger zu bringen.
Reiseerfahrung hilft in Krisenlagen
Unfälle oder Alarme hat Graf unterwegs noch nicht erlebt, sehr wohl aber Flugstornierungen. Einmal wäre er aufgrund eines Wintereinbruchs in Amerika fast nicht mehr weitergekommen. Da hat ihm seine Reiseerfahrung sehr geholfen. Letztlich kam er doch noch rechtzeitig am Zielort an. Wie vorgeschrieben, informierte er stets seine Firma über alle Verzögerungen und Ausweichmanöver per Telefon. So schreibt es die DKMS vor.
Auch während der Corona-Zeit war Graf unterwegs. "Die leeren Flughäfen waren ein besonderes Erlebnis. Ich durfte damals mit Sondergenehmigung fliegen. Aber einige Länder wie zum Beispiel Australien haben damals nicht einmal Stammzellenkuriere reingelassen."
Geringe Aufwandsentschädigung, aber Kurzurlaub möglich
Bei "OnTime" sind 500 Boten ehrenamtlich unterwegs. Insgesamt hat sie bereits 50.000 Transplantatauslieferungen realisiert. Hotel- und Reisekosten trägt die Firma. Die Kuriere erhalten lediglich eine sehr kleine Aufwandsentschädigung. Sie reicht gerade, um unterwegs die Verpflegung nicht auch noch aus eigener Tasche bezahlen zu müssen. Im Mittelpunkt steht die gute Sache.
Allerdings gebe es ein "Zuckerl", heißt es von "OnTime". Die Kuriere, die Zeit, Geld und Lust haben, können nach Abgabe der Spende ihren Aufenthalt noch um ein paar Tage verlängern, sich die Stadt anschauen und dann erst zurückfliegen. Die Flugkosten übernimmt dann nach wie vor das Unternehmen. Für den weiteren Aufenthalt müssen die Kuriere in diesem Fall aber selbst aufkommen.
Roland Graf ist bislang immer gleich wieder heimgeflogen. An jedem Donnerstag will er zu Hause bei seiner Familie in Manching sein, denn dann kommen ihn seine Enkel besuchen. Und die sind ihm neben seiner Reiselust die größte Freude.
Ehrenamtliche Stammzellenkuriere mit hohen Standards
Stammzellenkuriere wie Roland Graf sind durchweg alle ehrenamtlich unterwegs. Sie müssen hohen nationalen und internationalen Standards genügen. Das betont die DKMS. Zu diesen Standards gehört es, dass die Kuriere volljährig sein müssen, über Reiseerfahrung verfügen, ausreichend Englisch sprechen und zuverlässig sind. Während der Reise sind Alkohol und jede Art von Drogen untersagt. Geschenke dürfen die Boten auf keinen Fall annehmen.
Maximal 72 Stunden Zeit: Empathie und gute Nerven gefragt
Die Auswahl der Kuriere trifft die jeweilige Transportfirma, wie in München das Unternehmen "OnTime". Die DKMS überprüft regelmäßig, ob die Standards der ZKRD eingehalten werden. Sebastian Schmipf von "OnTime" schult die Kuriere. Neben den allgemeinen Standards legt er Wert "auf Empathie und gute Nerven, denn nur wer sich einfühlen kann, wird schwierige Situationen auf einer Reise trotz des Zeitdrucks gelassen meistern".
Jeder Stammzellentransport ist eine Reise gegen die Zeit. Denn die Spenden sind nur begrenzt haltbar. Eine Stammzellenspende muss laut DKMS innerhalb von 72 Stunden beim Empfänger sein. Eine Knochenmarksentnahme hält nur 48 Stunden.
Bei "OnTime" weiß man auch, dass unterschiedliche Länder unterschiedliche Kuriere erfordern. So akzeptiert zum Beispiel Südafrika keine Stammzellenboten, die älter als 65 Jahre sind, während die USA Boten unter 25 Jahren ablehnt. Weil Diskretion und Zuverlässigkeit für diese Aufgabe notwendig sind, beschäftigt "OnTime" nur Ehrenamtliche, die ein Führungszeugnis vorlegen.
DKMS-Stammzellenspenden für gut 110.000 Patienten
Für die Deutsche Knochenmarkspenderdatei ist ihr Engagement ohne die ehrenamtlichen Kuriere nicht darstellbar. Mehr als 110.000 Patientinnen und Patienten, die weltweit mit Blutkrebs und anderen Krankheiten kämpfen, wurde durch die DKMS-Stammzellenspenden eine neue Lebenschance ermöglicht. Täglich spenden 22 Menschen über DKMS Stammzellen oder Knochenmark für Patienten im In- und Ausland.
Welche Art der Spende für welchen Kranken die richtige ist, entscheiden die Ärzte individuell. Die periphere Stammzellentnahme kommt derzeit mit etwa 90 Prozent am häufigsten zum Einsatz. Und diese Spende ist mit 72 Stunden auch deutlich länger haltbar als Knochenmark, das per Vollnarkose aus dem Beckenknochen entnommen wird und innerhalb von 48 Stunden beim Empfänger sein muss.
DKMS: In Deutschland findet sich meistens ein passender Spender
Wie die DKMS betont, zeigt die Spendenbereitschaft und die Arbeit der Ehrenamtlichen Wirkung: "Zumindest in Deutschland lässt sich mittlerweile für die meisten suchenden Patienten ein passender Spender finden", so die Organisation. Doch der Einsatz ist auch dringend notwendig. Alle 27 Sekunden erkrankt weltweit ein Mensch an Blutkrebs, in Deutschland alle zwölf Minuten.
Wie viele von ihnen eine Stammzellspende benötigen, hängt von sehr vielen Faktoren ab. Mittlerweile ist die DKMS als Spenderdatei auch in den USA, England, Polen, Chile, Indien und Südafrika vertreten. Dadurch erhöht sich die Spendervielfalt. Das ist wichtig, denn die Übereinstimmung der Gewebemerkmale hängt auch von der ethnischen Herkunft ab.
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