"Corona fährt wie eine Walze über alle und saugt alles Gute", schreibt Anna (Name geändert) im März 2021. Die damals 21-Jährige hat sich beim Suizidpräventionsprogramm U25 der Caritas Nürnberg angemeldet und wurde an eine Ehrenamtliche vermittelt, die ihre E-Mails liest und beantwortet. Anna beschreibt in ihren Nachrichte unter anderem, wie die Anti-Corona-Maßnahmen sie isolieren: "Wofür soll ich noch aufstehen? Das frag ich mich in letzter Zeit ziemlich oft. Was wäre, wenn ich jetzt gegen den nächsten Baum fahre?"
Ihr Gegenüber im Mailverkehr ist Lina Böhm, die gleich alt ist und sich bei U25 zur Peer-Beraterin hat ausbilden lassen. Bei diesem Angebot schreiben gerade keine Fachleute, sondern gleichaltrige Laien, die aber für den Umgang mit Krisen und Suizidalität geschult wurden. Lina präsentiert in ihren Nachrichten keine Lösungen. Stattdessen betont sie immer wieder, dass sie Verständnis für Annas Situation und für ihre Gedanken hat – auch für die Suizidgedanken. Diese offen anzusprechen ist elementarer Teil des Konzepts.
Tabuthema Suizid
"Wenn jemand Suizidgedanken hat, dann hat er sie", sagt Lina Böhm. "Und wenn es jemandem schlecht geht und er hat keine Suizidgedanken, dann hat er nicht plötzlich Suizidgedanken, nur weil ich ihn gefragt habe: Hey, sag mal, hast du die Gedanken, dir das Leben zu nehmen?" Durch Offenheit soll Vertrauen entstehen und durch Vertrauen Zuversicht.
Antwort-Mails werden gegengelesen
Jede Mail, die von ehrenamtlichen Peers geschrieben wird, wird von einer Hauptamtlichen gegengelesen, bevor sie an die Ratsuchenden geht. Das bringt neben dem Blick der Sozialpädagoginnen auch eine Entlastung der Ehrenamtlichen mit sich, denn sie sind nicht allein verantwortlich für das, was sie schreiben.
Untersuchung zeigt: Hilfe kommt an
Eine Untersuchung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat die Wirksamkeit dieser Hilfeform überprüft. Ratsuchende, die mit U25-Ehrenamtlichen im Mailkontakt standen, bewerteten die Verbesserung ihrer persönlichen Situation über einen Zeitraum von zwei Jahren besser als eine Vergleichsgruppe ohne E-Mail-Beratung. U25 will dennoch keine Therapie ersetzen, sondern ein Zusatzangebot etablieren, gerade weil es schwer ist, einen Therapieplatz zu bekommen.
Deutschlandweit elf Standorte
U25 ist ein Angebot des Deutschen Caritasverband. An deutschlandweit elf Standorten betreuen über 330 Peers junge Menschen in Krisensituationen. Dennoch ist auch hier die Nachfrage höher als die Kapazitäten. Oft zeigt auf der Website von U25 eine rote Ampel [externer Link] an, dass aktuell keine neuen Anfragen angenommen werden können.
Krisenhilfe selbst in der Krise?
U25 finanziert sich seit der Gründung des ersten Standorts 2001 in Freiburg über Fördermittel, die immer wieder befristet zugesagt werden. Deshalb stand das Projekt im Laufe seiner Geschichte schon mehrfach auf der Kippe. Mit dem 1. Januar beginnt für U25 Nürnberg ein neuer Förderzeitraum über drei Jahre. Dennoch beklagen die Verantwortlichen, dass sie nicht auf lange Sicht planen können.
Dabei ist es erklärtes Ziel der Politik, die Suizidprävention in Deutschland auf stabilere Füße zu stellen. Im Mai 2025 hat Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Nationale Suizidpräventionsstrategie vorgestellt. Dann folgten die Haushaltsstreitigkeiten und der Bruch der Koalition, sodass die konkrete Ausgestaltung der Strategie wohl Aufgabe einer künftigen Bundesregierung sein wird. Angebote wie U25 hoffen dabei auf eine Verstetigung ihrer Arbeit.
- Zum Artikel: Suizid – Hilfe für Jugendliche dringend gesucht
Begleitung auf dem Lebensweg
Die Coronamaßnahmen sind passé. Sorgen und Ängste sind geblieben. Aber Anna hat in den dreieinhalb Jahre nach ihrer ersten E-Mail an U25 erfolgreich eine Ausbildung absolviert und einen Job gefunden. Sie ist inzwischen in Therapie, schreibt aber weiterhin regelmäßig Nachrichten an Lina. Beide sind sich nahegekommen über die Jahre und haben sich gegenseitig auf ihrem Lebensweg begleitet. Doch früher oder später ist eine Trennung unausweichlich, denn U25 richtet sich an Unter-25-Jährige.
Wie erkenne ich, ob jemand suizidgefährdet ist? Wie gehe ich damit um? Wo finde ich bei Suizidgedanken selbst Hilfe? Hier haben wir Informationen zusammengestellt.
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