(Symbolbild) Eine Frau hält ein Maßband neben ihren nackten Bauch.
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Wenn Essen zum Feind wird: Immer mehr Jugendliche betroffen

Wenn Essen zum Feind wird: Immer mehr Jugendliche betroffen

Ballett, Schule, Freundeskreis: Shona will alles perfekt machen. Mit 16 Jahren fängt sie an zu hungern. Essen wird etwas, das sie kontrollieren kann. Damit ist sie nicht allein: Immer mehr jugendliche Mädchen erkranken an einer Essstörung.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im Radio am .

Alles beginnt mit einer harmlosen Diät. Ein bisschen mehr aufs Essen achten, Kalorien zählen, wiegen. Schlank sein ist in unserer Gesellschaft anerkannt und gewollt. Rund ein Viertel aller jugendlichen Mädchen zeigt ein auffälliges Essverhalten, wie Zahlen der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zeigen. Für einige wird abnehmen zur Sucht. Auch Shona Hoppe fängt mit 16 Jahren an, exzessiv zu hungern. Bis sie nach nur sechs Monaten mit 40 Kilogramm im Krankenhaus zwangsernährt wird.

Kuchen und Pommes waren Tabu

"Ein Stück Kuchen oder Pommes – das zu essen war mein Albtraum. Davor hatte ich wirklich Angst", sagt sie. Wann immer es ging, vermied sie es zu essen. Shona war magersüchtig. Anorexia Nervosa lautet der Fachbegriff. Diese Krankheit ist neben der Bulimie und der Binge-Eating-Störung eine Form der Essstörung.

Betroffene haben keine Vorstellung mehr davon, welche Menge Essen normal ist. Eine halbe Scheibe Brot, ein Apfel, ein paar Salatblätter empfinden Magersüchtige schon als zu viel – pro Tag. Jede zehnte betroffene Person stirbt an den Folgen des exzessiven Hungerns. Anorexia Nervosa ist damit die psychische Erkrankung mit der höchsten Todesrate.

Betroffene wollen die Kontrolle zurück

Am häufigsten erkranken junge Erwachsene daran. Denn in der Pubertät passiert neuronal ganz viel, das Hirn ist eine Großbaustelle, erklärt Dr. Arne Bürger. Er ist leitender Psychologe der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Würzburger Uniklinik. "Häufig fühlt sich jemand vor Ausbruch der Krankheit emotional nicht gut." Sich nicht wertvoll finden, die Angst, die Eltern zu enttäuschen, zu versagen spielen eine Rolle. Gerade in der Pubertät scheinen einzelne Ereignisse übergroß. "Dann hört die Betroffene auf zu essen – und plötzlich habe ich ein Gefühl von Kontrolle." Dazu komme die positive Bestätigung von außen.

Die Ursachen seien vielfältig: So seien vor allem perfektionistische Menschen eher gefährdet, an einer Essstörung zu erkranken. Aber nicht nur die Persönlichkeit spiele eine Rolle. Auch gesellschaftliche Faktoren haben einen Einfluss: "Figur und Gewicht scheint in unserer Welt, zumindest medial vermittelt, besonders wichtig zu sein." Das Schönheitsideal, schlank und fit zu sein, das auf den Plattformen der Sozialen Netzwerke vermittelt wird, habe auch damit zu tun.

Immer mehr jugendliche Mädchen haben eine Essstörung

Seit den 2000ern steigt die Zahl der Betroffenen stetig an. Rund ein Viertel aller jugendlichen Mädchen zeigt laut der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Symptome einer Essstörung: Das kann sein, dass sie mal einen Tag hungern, mal das Essen wieder erbrechen. Nur ein Prozent der Mädchen entwickelt dann eine ernsthafte Essstörung.

Magersucht, Bulimie und Binge Eating-Störung haben etwas gemeinsam: "Der ganze Tag kreist ums morgendliche Wiegen. Die Person zieht sich zurück, gemeinsame Mahlzeiten werden nicht mehr eingehalten." Das seien Warnsignale, so Bürger.

Grafik: Essstörungen bei 15- bis 19-jährigen Mädchen

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Essstörungen bei 15- bis 19-jährigen Mädchen in Bayern werden mehr.

💬 BR24-User "sry" hat in den Kommentaren nach den Ursachen des Anstiegs von Essstörungen seit 2020 gefragt. Das Team von "Dein Argument" hat ergänzt:

Eine zentrale Ursache für den Anstieg seit 2020 sieht Psychologe Andreas Schnebel vom Bundesfachverband für Essstörungen in den Schulschließungen während der Corona-Pandemie. Diese hätten insgesamt die Schutzmechanismen gegen Essstörungen geschwächt. Den Jugendlichen habe es an Struktur und Alltag gefehlt, der Distanzunterricht habe sie teilweise psychisch belastet und sozial isoliert. Dadurch sei wiederum mehr Zeit für Social Media geblieben. Hier fordert der Verband eine stärkere Regulierung: Dass etwa bearbeitete Bilder gekennzeichnet werden müssen oder Inhalte altersgerecht gestaltet werden. 💬

Gesund werden dauert viele Jahre

Der Würzburger Psychologe Bürger rät Eltern, aufmerksam zu sein und bei einem Verdacht das eigene Kind darauf ansprechen. Das sieht auch Shona so. Sie ist mittlerweile geheilt, sagt sie. Fast 10 Jahre lang hat das gedauert – ein täglicher Kampf: "Ich habe mich gezwungen, jede Mahlzeit zu mir zu nehmen, habe Ausflüge in Cafés und Restaurants geplant und durchgezogen. Und irgendwann wurde es leichter."

Was ihr geholfen hat: sich nicht am Gewicht, sondern an Lebenswünschen zu orientieren. Shona ist heute Ende 20, arbeitet in ihrem Traumberuf als Chirurgin, hat geheiratet und einen kleinen Sohn. Ihr Fall zeigt: Je früher eine betroffene Person Hilfe bekommt, desto größer sind die Heilungschancen.

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