Ein Werktag, morgens um kurz nach acht. Elias kommt aus einem der Häuser auf dem Regens-Wagner-Hof, zieht sich die Stallschuhe an. Er lebt und arbeitet auf dem Hof, einem landwirtschaftlichen Anwesen mit vielen Pferden, Ziegen und Katzen zwischen Dillingen und Holzheim. Elias ist Autist. Er spricht nicht, verständigt sich mit einer selbst erfundenen Zeichensprache. Als er vor eineinhalb Jahren hier auf dem Hof kam, war klar: Elias braucht eine individuelle Betreuung. Für ihn muss eine Aufgabe gefunden werden. Heilerziehungspfleger Mauricio Volkmann hat ihn eine Weile beobachtet und festgestellt: Elias gefällt es, wenn er sieht, was er getan hat. Etwa, wenn er Laub zusammenrecht, und danach alles schön sauber ist. So hat man für ihn eine Aufgabe gefunden: Er säubert den Auslauf der Pferde von Pferdeäpfeln. Anfangs habe man dem 24-Jährigen jeden Schritt einzeln zeigen müssen, immer wieder. Wenn jemand dazu kam, sei das für ihn eine Störung gewesen, habe ihn aus dem Konzept gebracht. Aber heute, sagt Mauricio Volkmann, könne er die Aufgabe ganz alleine erledigen. Er habe den Eindruck, dass Elias sich wohlfühle auf dem Hof. Als Elias das hört, schaut er auf, mit seinen großen dunklen Augen, und nickt zwei Mal – bestimmt, resolut wirkt das. Dazu atmet er laut. Dann greift er wieder zur Gabel, arbeitet weiter. Bis alles sauber ist.
Individuelle Betreuung und weniger Zeitdruck
Das sei der große Vorteil gegenüber konventionellen Behindertenwerkstätten, sagt Volkmann: Dass man hier auf dem Hof nicht so unter Zeitdruck stehe. Auch ein wirtschaftlicher Gewinn stehe nicht im Vordergrund. Ziel sei es, für jeden hier eine Aufgabe zu finden, die ihm guttue. Andere Hofbewohner, wie die beiden Patricks, arbeiten gerne handwerklich. Heute helfen sie Mauricio Volkmann beim Aufbau des Trails. Das ist eine Art Erlebnisparcours, für Mensch und Tier. Gemeinsam bauen sie verschiedene Hindernisse, eine Holzbrücke ist schon fertig. Heute bauen sie Trittstufen. Der eine Patrick schaufelt Sand in die vorgefertigten Schalungen, der andere Patrick tritt ihn fest, hüpft hoch, lacht. Auch er spricht wenig – aber, man versteht ihn, wenn man ihn gut kennt zumindest. Mauricio Volkmann begleitet ihn schon lange, hat ihn schon bei seiner früheren Arbeitsstelle kennengelernt. Der Heilerziehungspfleger geht ein Stückchen weg, beobachtet die beiden bei der Arbeit: Sehr harmonisch laufe das ab. Wenn man bedenke, dass bei beiden doch schwieriges Verhalten vorliege, hätten sie sich gut entwickelt. "Und das Schönste ist doch, Männer, dass wir immer draußen arbeiten oder?", ruft er den beiden zu. Patrick nickt und sein Kollege lacht, ja, ihm mache nicht mal Regen etwas aus, da gehe er gerne raus. Da würden die Fische nämlich am besten beißen. Angeln, das ist sein Hobby. Nach getaner Arbeit fährt er oft mit seinem Fahrrad und dem Angelzeug im Anhänger an einen der nahegelegenen Baggerseen.
Hof ist spezielles Angebot der Regens-Wagner-Stiftung
Den Regens-Wagner-Hof gibt es inzwischen seit über 20 Jahren. Er liegt mitten in der Natur, zwischen Dillingen und Holzheim. Die Regens-Wagner-Stiftung, eine der großen Behinderteneinrichtungen in Bayern, betreibt am Hauptsitz in Dillingen zahlreiche Einrichtungen für Behinderte: Werkstätten, Förderschulen, Kindertagesstätten. Diese Angebote gibt es auch an vielen anderen Standorten in Bayern. Der Hof aber ist etwas Besonderes. Hier greifen die Arbeitsmöglichkeiten für die Menschen, die hier auch wohnen, und die Therapieangebote ineinander. Während die Pferde versorgt werden müssen, die für viele allein durch ihr Dasein schon eine Art Therapie bedeuten, können die Bewohner des Hofes hier auch reit- und tiertherapeutische Angebote in Anspruch nehmen.
Wo Tiere Menschen helfen
Nachfrage nach Reittherapie steigt
Die Nachfrage hier würde stetig wachsen, sagt Hofleiterin Claudia Pastors. Deshalb habe man in diesem Jahr auch viel erneuert und erweitert. Das größte Projekt: der Roundpen. Eine Art runde, überdachte Reithalle - besonders geeignet ist sie zum Longieren der Pferde. Jetzt kann neben der Reithalle auch dieser Ort für Therapiestunden genutzt werden. Claudia Pastors kümmert sich hier um die gesamte Organisation: Wohnen, Therapie und Tagesstruktur. So nennen die Mitarbeiter hier die Arbeitsmöglichkeiten für die Hofbewohner. Jeden Morgen ist sie bei der Besprechung dabei. Man tauscht sich aus: Was ist vorgefallen in der Nacht? Das ist wichtig, die Mitarbeiter müssen das wissen. Wegen der Sprachbarrieren ist es oft nicht einfach, nachzuvollziehen, warum der eine oder die andere eventuell nicht gut gelaunt ist, warum jemand traurig oder wütend ist. Aggressives Verhalten kann immer wieder vorkommen, sagt Pastors. Sie spricht aus Erfahrung. Dann müssten die Mitarbeiter beruhigend eingreifen. Dafür seien sie aber geschult. Die 21 Behinderten auf dem Hof werden von über 30 Mitarbeitern betreut – von Heilerziehungspflegern über Erlebnispädagogen bis hin zu Reittherapeuten.
Reittherapie auch für Menschen von außerhalb
Zur Reittherapie kommen auch Menschen von außerhalb auf den Hof. Wie Doris Mayr. Sie wohnt und arbeitet eigentlich bei der Lebenshilfe in Dillingen, der zweiten großen Einrichtung für Menschen mit Behinderung in der Stadt. Seit über zehn Jahren bringt ihre Mutter Doris für die Therapie zum Hof. Die Kosten – 60 Euro pro Stunde – übernehmen die Kassen nicht. Das ärgert Elvira Mayr, trotzdem will sie nicht auf die Therapie verzichten. "Wenn wir mal keine Therapie haben, dann merkt die Krankengymnastin das sofort. Dann sind die Gelenke von Doris viel steifer", sagt sie. Ihre Tochter Doris hat eine extrem seltene Chromosomenerkrankung. Bei ihrer Geburt vor 34 Jahren habe es dieses Phänomen erst sechsmal auf der Welt gegeben, berichtet ihre Mutter, es gebe nicht einmal einen Namen für die Krankheit. Doris' Gelenke versteiften sich mehr und mehr. Durch die Reittherapie könne dieser Prozess zumindest verlangsamt werden. Das Pferd ist für Doris Motivation und Mittel zugleich. Zu Beginn der Stunde hält sie in der einen Hand Stoffaffe Charly, kann sich also nur mit einer Hand am Gurt halten. Dann dreht sie einen Hulahoop-Reifen um die Hüften, eine Koordinationsübung. Zuletzt trabt sie noch. "Das war anfangs undenkbar", erinnert sich Reittherapeutin Karin Dannemann. Jetzt schaffe sie mehr als 20 Runden. Sie begleitet Doris schon die ganzen Jahre über. Ihr großes Ziel: Galopp. Mit dem bisher Erreichten ist sie aber schon sehr zufrieden. Zum Schluss gibt Doris' Pferd Lisa noch ein Stückchen Brot und streicht ihr über den Hals. Feierabend für Lisa.
Kurs "Pony ABC" für Kinder mit und ohne Defiziten
Auf die Therapeutinnen warten noch fünf Kinder und Trinchen, eines der Mini-Shetlandponys auf dem Hof. Im Umgang mit den Ponys sollen die Kinder Wissenswertes über die Tiere lernen und in ihrem Selbstvertrauen gestärkt werden. Hier dürfen Kinder mit und ohne Defizite mitmachen. Auf dem Hof kommen sie auch mit den hier lebenden Menschen mit Behinderung in Kontakt. Christiane Klaus' Tochter Marlene macht schon zum dritten Mal mit. "Marlene hat hier gelernt, Mut zu zeigen und sich was zuzutrauen." Die Fünfjährige putzt inzwischen Pony Trinchen, dann wird angeschirrt: Heute dürfen die Kinder Kutsche fahren. Natürlich hat Erlebnispädagogin Bernadette Kinzel auch noch zusätzliche Aufgaben mit eingebaut: Die Kinder sollen Naturmaterialien in verschiedenen Farben bringen. Aaron wählt braune Erde, Katharina bringt ein rotes Blatt. Zuletzt dürfen alle fünf noch gleichzeitig in der Kutsche fahren. Trinchen trabt eifrig los. Dafür bekommt sie dann auch noch ein Stück Apfel. Die Stunde ist um, Marlenes Mutter wartet schon: "Ich finde das toll, die Gemeinschaft hier. Natur, Pferde, das ganze Programm. Und ich finde es ganz wichtig, dass die Kinder auch den Umgang mit diesen besonderen Menschen hier lernen – alle gehören dazu."
Es ist Abend geworden auf dem Hof. Elias hat noch einen ganzen Haufen Laub zusammengerecht. Patrick ist im Stall, streichelt sein Lieblingspferd. Doris ist inzwischen wieder in ihrer Wohnung bei der Lebenshilfe. Die Hofmitarbeiter informieren die Nachtschicht noch darüber, ob etwas vorgefallen ist. Und die Pferde stehen an den Futterraufen und zermalmen das duftende Heu zwischen den Zähnen.
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