Für viele Schülerinnen und Schüler der Mittelschule Scheßlitz im Landkreis Bamberg ist heute Putztag. Sie werden die Messingplatten von Stolpersteinen, die der Kölner Künstler Gunter Demnig in Scheßlitz und Bamberg zur Erinnerung an die Holocaust-Opfer verlegt hat, reinigen, polieren und anschließend mit Blumen und Kerzen schmücken. Auch die Stolpersteine vor dem Haus der Familie Hausmann in Scheßlitz sind dabei – das ist "ihre" Familie. Jeder Schüler, jede Schülerin der Mittelschule kennt ihre Namen und ihre Geschichte.
Söhne mussten eigenes Grab schaufeln
An der Treppe, die in die Klassenzimmer führt, hängen Fotos der Hausmanns: die Eltern Semi und Kathi, die Söhne Ludwig und Berthold und der Onkel Salomon. Semi starb in der Psychiatrie, Kathi, Ludwig, Berthold und Salomon wurden deportiert. Besonders das Schicksal von Berthold und Ludwig bewegt die Jugendlichen – Berthold starb mit 20 Jahren, sein kleiner Bruder Ludwig mit elf. "Die zwei Söhne wurden in ein KZ gebracht, die mussten tatsächlich ihr eigenes Grab schaufeln und wurden dann erschossen", erzählt Johanna.
Schüler bauten Stolperstein aus Pappmaschee
Im Kunstunterricht haben sie einen übergroßen Stolperstein aus Pappmaschee für Familie Hausmann gebaut. Oben stehen ihre Namen, an den Seiten kleben ihre Fotos. Der XXL-Stolperstein steht in der Aula, und die Schüler geben gut auf ihn acht. Wenn einer achtlos seine Jacke auf ihm ablegt oder ihn beschädigt, wird er von anderen ermahnt, erzählt Lehrerin Julia Fliege. Den Schülern sei sehr bewusst, dass dieses Mahnmal mit Respekt behandelt werden sollte.
Im Oktober 2024 verlegte Gunther Demnig dann fünf Stolpersteine vor dem Haus der Familie in Scheßlitz. Die Schülerinnen und Schüler hatten Spenden dafür gesammelt. An jenem Tag wurden insgesamt 32 Stolpersteine vor den Häusern ehemaliger jüdischer Bewohner in Scheßlitz und den Ortsteilen Zeckendorf und Demmelsdorf verlegt. Nun sind sie Teil des von Demnig geschaffenen dezentralen Gedenkens – europaweit hat der Künstler mehr als 100.000 Stolpersteine verlegt.
Mit Projektwoche gegen Antisemitismus fing es an
Zusammen mit ihrer Kollegin Theresa Bayer hat Lehrerin Julia Fliege vor fünf Jahren eine Projektwoche zum Thema Antisemitismus organisiert. Der Anschlag von Halle an der Saale am 9. Oktober 2019 hatte sie so sehr schockiert, dass sie etwas tun wollten. Damals hatte der rechtsextreme Täter Stephan B. versucht, in der Synagoge von Halle einen Massenmord an Jüdinnen und Juden zu begehen. Weil das nicht gelang, erschoss er eine Passantin und einen Gast in einem Imbiss.
Schüler putzen Stolpersteine in Bamberg
Im Rahmen der Projektwoche fuhren die beiden Lehrerinnen erstmals mit Schülern nach Bamberg, um Stolpersteine zu säubern. Was nicht spektakulär klingt, hinterlässt bleibenden Eindruck. "Erst fand ich es nicht so interessant, Steine zu putzen", sagt Tom. "Aber als ich mich mehr mit dem Thema befasst habe, fand ich es dann schön, dass man so eine Erinnerung macht." Auch Johanna beschäftigt das Thema sehr. "Wenn ich überlege, dass ich die Hälfte der Klasse nicht mehr sehe, weil die wegen ihrer Religion sterben müssten, das ist schwierig zu begreifen." Und Michelle ergänzt: "Man kann vielleicht draus lernen, dass es nicht gut ist, wenn man die Menschenrechte vernachlässigt und Menschen so behandelt, wie man grad drauf ist. Jeder Mensch ist ein Mensch mit Würde, und die Würde ist unantastbar."
Viel Wissen über jüdische Traditionen
Die Projektwoche vor fünf Jahren hat an der Mittelschule Scheßlitz viel in Gang gesetzt. Die Kinder und Jugendlichen haben eine Sukka, eine Laubhütte gebaut – sie ist fest auf dem Schulhof installiert. Sie haben den Jüdischen Friedhof in Zeckendorf besucht und wissen über die jüdischen Feiertage Bescheid. Schüler, Lehrer, Schulleitung, der Hausmeister und die Eltern – alle sind dabei. Und Lehrerin Julia Fliege merkt immer wieder, wie viel sie und ihr Kollegium dadurch bewegen konnten. Etwa, als eine ehemalige Schülerin ihr ein Foto mit einem Stolperstein und einer Rose daneben geschickt hat. "Das sind so Momente, wo ich mir denke: Yes! Es lohnt sich!"
Im Video: Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenk-Stätte Flossenbürg, zur Erinnerungskultur bei Jugendlichen
Jörg Skriebeleit, Leiter der KZ-Gedenk-Stätte Flossenbürg, zur Erinnerungskultur bei Jugendlichen
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!