Als Anita Kaminski an diesem Donnerstagmittag zum Postkasten geht, liegt darin die "Jüdische Allgemeine". Offen und sichtbar, so wie Zeitungen normalerweise ausgeliefert werden. Doch das wird vorerst das letzte Mal so sein: Künftig wird die jüdische Wochenzeitung auch in Bayern im neutralen Umschlag verschickt. Eine besorgniserregende Entwicklung für die Münchnerin.
"Wir leben doch in einem freien Land, wo jede Zeitung Ausdruck von Vielfalt ist"
"Ich finde es sehr traurig, weil ich eigentlich gedacht habe, dass wir in einem freien Land leben, wo jede Zeitung und jedes Presseorgan, egal woher es kommt, Ausdruck von Vielfalt ist", sagt Anita Kaminski. "Jetzt leben wir in einer bedrohten Situation, wo man vorsichtig wird, wo man misstrauisch wird".
Anita Kaminski erzählt, dass sie eigentlich kein ängstlicher Mensch sei. Dennoch: Die Ängste, die schon immer da waren, seien jetzt virulent geworden, denn der Wunsch nach Sicherheit bestimme derzeit die Debatten innerhalb der jüdischen Gemeinden in München. Viele wollten jetzt anonymer auftreten.
Charlotte Knobloch veranlasste neutralen Versand der Jüdischen Allgemeinen
Auch viele andere Jüdinnen und Juden in Bayern fühlen sich derzeit nicht mehr sicher. Aus diesem Grund hat die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern den Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen, Philipp Peyman Engel, in Berlin angerufen.
Die Präsidentin der Gemeinde, Charlotte Knobloch, teilt dazu auf BR-Anfrage mit: "Unsere Gemeinde hat den neutralen Versand der Jüdischen Allgemeinen veranlasst, nachdem mehrere Mitglieder mit diesem Wunsch an uns herangetreten waren."
Knobloch: "Wenn eine bedrohte Minderheit sich unsichtbar macht, ist das keine Lösung"
Das Anwachsen des Antisemitismus in den letzten Jahren und besonders die aktuelle, sehr aufgeheizte Stimmung habe die Sicherheitslage für viele jüdische Menschen in Deutschland verschärft, betont Knobloch. "Sorge und Angst nehmen innerhalb unserer Gemeinschaft seit Langem zu. Mit der jetzt beschlossenen Maßnahme wollen wir dieser Entwicklung an einer kleinen, aber bedeutsamen Stelle im häuslichen Umfeld entgegentreten." Mittel- und langfristig sei es aber natürlich keine Lösung, wenn eine bedrohte Minderheit sich unsichtbar mache, so Knobloch.
Gemeindemitglieder werden aufgefordert, keine jüdischen Symbole zu tragen
In einem Schreiben, das dem Bayerischen Rundfunk vorliegt, hat eine jüdische Gemeinde in Bayern ihre Mitglieder kürzlich darum gebeten, dass sie sich aus Sicherheitsgründen "unauffällig verhalten" und das Zeigen von israelischen und jüdischen Symbolen vermeiden sollten.
In dem Schreiben heißt es weiter: "Die Sicherheitslage für alle Gemeinden ist durch die Situation in Israel sehr angespannt!". Bei direkter Gefahr solle die Sicherheitsabteilung der Gemeinde kontaktiert werden, Telefonnummern sollten deshalb für den Fall der Fälle entsprechend abgespeichert werden.
RIAS Bayern: Antisemitische Vorfälle sprunghaft angestiegen
Felix Balandat von RIAS, der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern, kann diese Sorgen und Ängste von Jüdinnen und Juden sehr gut nachvollziehen. Denn seit den Terrorangriffen der Hamas in Israel ist die Zahl der juden- und israelfeindlichen Vorfälle in Bayern sprunghaft angestiegen. So gab es alleine im Zeitraum vom 7. bis zum 19. Oktober 35 antisemitische Vorfälle im Freistaat. Das sind mehr als doppelt so viele wie zur gleichen Zeit im Jahr zuvor.
"Was wir als RIAS Bayern dokumentieren, ist tatsächlich, dass – wenn man sich in der Öffentlichkeit als Jude zu erkennen gibt oder man sich auf irgendeiner Weise positiv auf Israel bezieht – man damit rechnen muss, deswegen angegangen zu werden", so Felix Balandat. "Wir haben auch körperliche Angriffe, wir haben Bedrohungen, wir haben Sachbeschädigungen."
Israelfeindliche Parolen, Sachbeschädigung, Tötungsaufruf
Einige aktuelle Beispiele, die bei RIAS Bayern seit Oktober dokumentiert wurden: In München entdeckte ein Passant an der Außenmauer des Veranstaltungsgeländes Bahnwärter Thiel eine Schmiererei auf Englisch, wo die antisemitische Parole vom sogenannten "Kindermörder Israel" bedient wurde. Sie geht zurück auf die mittelalterliche Ritualmordlegende, wonach Juden Kinder für rituelle Zwecke entführen, foltern und ermorden würden.
Auf einem jüdischen Friedhof in Regensburg wurde ein Grabstein angekohlt und in Nürnberg ist ein israelisches Restaurant mit dem Davidstern und einer israelfeindlichen Parole bekritzelt worden.
Vor allem aber auf Kundgebungen kommt es laut RIAS Bayern vermehrt zu Antisemitismus. Auf der sogenannten "Pro Palästina-Demo" am 9. Oktober am Münchner Marienplatz soll ein Teilnehmer zum Beispiel dazu aufgerufen haben, alle Juden zu töten. Laut Informationen der Polizei München wurde der Mann vorläufig festgenommen.
Ludwig Spaenle: "Das ist ein Skandal für unsere Gesellschaft!"
Die Zahl der Angriffe ist vermutlich noch höher als bisher in der Statistik festgehalten. Felix Balandat berichtet, dass die Recherchestelle derzeit kaum hinterherkomme, alle aktuellen Meldungen über antisemitische oder israelfeindliche Vorfälle zu dokumentieren.
Auch für Ludwig Spaenle (CSU), den Antisemitismus-Beauftragten des Freistaates Bayern, ist das, was da gerade passiert, vollkommen inakzeptabel: "Jüdinnen und Juden in Bayern fürchten sich, das ist ein Skandal für unsere Gesellschaft! Wir müssen hier als Zivilgesellschaft zusammenstehen, die Politik stellt Sicherheit sicher für die jüdischen Einrichtungen, aber das ist natürlich nur ein Teil", so Spaenle.
Spaenle will Antisemitismus von der Wurzel her bekämpfen, mit Information und Bildung. Und er fordert: "Wir müssen uns aber auch dagegen wehren, wie mit dem Thema Israel umgegangen wird, wenn ‚Israel ins Meer‘ gebrüllt wird, wenn der menschenverachtende Terror der Hamas verherrlicht wird, dann ist hier der volle Rechtsstaat gefordert."
Jüdischer Metzger: "Ich verstecke mich nicht!"
Einer, der sich nicht unterkriegen lässt, ist Metzger Ferdinand Rendl aus München-Neuhausen: Bayerisch, jüdisch und überzeugter Zionist, wie er sagt. Einer seiner Grundsätze: "Wenn ich für Israel bin, bin ich für Demokratie." Und deswegen macht er in seiner Metzgerei auch offen Werbung für Israel und für das Judentum. Die "Jüdische Allgemeine" zum Beispiel hat er nicht nur abonniert, er hängt einzelne Seiten sogar im Schaufenster aus. Draußen am Fenster sind Israel-Flaggen angebracht und drinnen stehen Bücher oder jüdische Gegenstände wie eine Chanukkia.
Und dieser offene Umgang mit seiner Religion und Sympathie für Israel hat auch ihn zur Zielscheibe gemacht. In seiner Metzgerei kam es ebenfalls zu israelfeindlichen Vorfällen, etwa als ein Jugendlicher in den Laden gestürmt und "Free Palestina" gerufen habe. Die Israelfahnen, die draußen angebracht waren, seien in kleine Stücke zerrissen und im Eingang verteilt worden, berichtet der Metzger weiter.
Aber Ferdinand Rendl hat auch gute Erfahrungen gemacht. Vor ein paar Wochen sei beispielsweise ein muslimischer Mann aus dem Kosovo in seinen Laden gekommen und habe sich im Namen seiner Religion für das Massaker in Israel entschuldigt. Sechs oder sieben deutsche Kunden haben dem Metzger ebenfalls versichert, dass sie an seiner Seite stehen, erzählt er.
"Ich verstecke mich nicht. Ich habe keine Angst, sonst würde ich das nicht machen. Aber: Es bleibt ein mulmiges Gefühl", betont Rendl. Der Metzger könne alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde verstehen, die derzeit Angst haben und sich unsicher fühlen.
"Grundgesetz verteidigen heißt Humanität verteidigen"
Metzger Rendl fordert deshalb: "Wir müssen unsere Verfassung vertreten, wir müssen unser Grundgesetz verteidigen und nicht ständig relativieren". Für ihn sei das alles eine katastrophale Entwicklung, denn es könne nicht sein, dass andere Jüdinnen und Juden wieder Angst haben. Und der Metzger ergänzt: "Wir brauchen Taten! Grundgesetz verteidigen, heißt Freiheit verteidigen, heißt Humanität verteidigen, gleich welcher Hautfarbe oder Herkunft er hat."
Auch Ludwig Spaenle erklärt, dass wir nun alle dafür Sorge tragen müssen, dass sich Jüdinnen und Juden in Bayern wieder sicher fühlen und frei bewegen können. Und zwar sofort. Dann kann auch Anita Kaminski ihre jüdische Zeitung wieder ganz normal zugestellt bekommen und Metzger Ferdinand Rendl seinen Laden nach Belieben dekorieren.
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