Die offen gebliebenen Fragen in der Flugblatt-Affäre um den stellvertretenden Ministerpräsidenten Hubert Aiwanger (Freie Wähler) aufzuklären - mit diesem Ansinnen hatten Grüne, SPD und FDP einen Zwischenausschuss im Landtag beantragt. Die Brisanz des Falls ist am Donnerstag deutlich spürbar: Der Senatssaal, in dem der Zwischenausschuss zusammenkommt, ist bis auf den letzten Stuhl besetzt.
Aiwanger hört sich Vorwürfe schweigend an
Von der Opposition kommt scharfe Kritik an Aiwanger, teils auch Rücktrittsforderungen. Der stellvertretende Ministerpräsident sei nicht mehr tragbar, heißt es etwa von den Grünen. Die SPD-Fraktion verweist auf weiterhin ungeklärte Details in der Affäre, etwa die Berichte über die Freie-Wähler-Abgeordnete Jutta Widmann, die den ehemaligen Lehrer Aiwangers, der den Fall ins Rollen brachte, mehrmals aufgesucht hatte - bereits vor Bekanntwerden der Vorwürfe durch die Medien.
Vertreter der Freien Wähler, der CSU und der AfD berufen sich hingegen auf die Entschuldigung und den Aufklärungswillen des Freie-Wähler-Chefs und fordern, sich wieder anderen Themen im Landtagswahlkampf zu widmen. Hubert Aiwanger indessen schweigt. Er war auf der Rednerliste zwar nicht für eine Aussage vorgesehen, hätte sich jedoch als Mitglied der Staatsregierung jederzeit zu Wort melden können.
Grünen-Fraktion: Nicht "das Lied der Rechtspopulisten singen"
Auch wenn der Freie-Wähler-Chef nicht antworten muss: Der Spitzenkandidat der Grünen, Ludwig Hartmann, konfrontiert Aiwanger gleich mit einer ganzen Reihe von Fragen, dabei blickt er ihm ernst in die Augen: "Finden Sie es passend, nach einer dürftigen Entschuldigung sofort in den Opfermodus überzugehen?" "Wie klingt für Sie eine ehrliche Entschuldigung? Wie sieht Reue aus, wie Bedauern?" Dann wendet er sich an den ebenfalls anwesenden Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU): "Durch welche konkreten Aussagen konnte Hubert Aiwanger Ihre Zweifel im persönlichen Gespräch ausräumen?"
Katharina Schulze schildert, dass sie schon als Schülerin gelernt habe, "wie zerbrechlich unsere Demokratie ist". Man müsse dafür sorgen, "dass unsere Demokratie stark und intakt bleibt". Hass und Hetze hätten stark zugenommen, "aus Worten kommt es immer wieder zu Taten". "Das Lied der Rechtspopulisten zu singen, macht deren Chor nur lauter und größer", warnt sie. Aiwanger inszeniere sich als Opfer einer Kampagne, dies gelte es zu hinterfragen: "Wenn legitimer Aufklärungswille als Denunziation angeprangert wird, sind wir nicht weit weg von dunklen Zeiten." Auf ihre Bemerkung, dass Aiwanger als Vize-Ministerpräsident "nicht mehr tragbar sei", erntet die Grünen-Politikerin Applaus aus den eigenen Reihen.
Von Brunn: Entschuldigung durch Kampagnen-Vorwurf relativiert
Florian von Brunn (SPD) räumt in seiner Rede zunächst ein, dass Jugendliche "viel Unsinn" machten. Er kenne jedoch keinen vergleichbaren Fall wie jenen um das rechtsextreme Flugblatt, das man in Aiwangers Schultasche gefunden hatte. "Es macht auch einen Unterschied, um wen es geht", erklärt von Brunn: Jemand, der den Freistaat vertrete, dürfe nicht in Verbindung mit Gedankengut aus dem Nationalsozialismus gebracht werden. "Es leben noch Zeitzeugen des Völkermords" zur Zeit des NS-Regimes, betont von Brunn. "Wichtig ist für sie auch zu wissen, dass sie hier in Deutschlands sicher und willkommen sind."
Zahlreiche Details in der Affäre seien nicht geklärt worden, auch durch Aiwangers Kommunikationsstrategie sei ein Schaden für den Freistaat entstanden: "Sie haben die Entschuldigung sofort relativiert, indem Sie sie mit einem Vorwurf einer Kampagne verbunden haben", wirft er dem Freie-Wähler-Chef vor. Zuletzt verteidigt von Brunn das Vorgehen von Aiwangers ehemaligem Lehrer, der das Flugblatt der Presse zugespielt hatte. "Bei ihm stelle ich Sorge um die Demokratie fest."
Martin Hagen: Keine "Kampagne linker Medien"
Der FDP-Fraktionsvorsitzende Martin Hagen reflektiert in seiner Rede Aiwangers Verhalten gegenüber den Medien: "Sie haben sich dafür entschieden, zunächst mal zu leugnen, der Presse mit Anwälten zu drohen." Eine Woche später sei dann eine "dürftige" Entschuldigung erfolgt - wofür, sei nicht ganz klar. Hagen verweist auf die Kommentare von Journalisten konservativer Medien in der Flugblatt-Affäre: Auch diese hätten an Aiwanger in der Sache kein gutes Haar gelassen. Es handle sich somit nicht um eine "Kampagne linker Medien" gegen den stellvertretenden Ministerpräsidenten, wie dieser behauptet habe.
CSU-Fraktion sieht sich weiter als Brandmauer gegen rechts
Deutlich mildere Töne schlägt Tobias Reiß an, der die CSU-Fraktion vertritt: "Sie dürfen es mir glauben: Es lässt mich nicht kalt, wenn wir heute darüber diskutieren, ob ein Mitglied der bayerischen Staatsregierung in der Jugend eine antisemitische Gesinnung hatte", betont Reiß. Dann setzt er zur Verteidigung seiner Partei an: Die CSU und Ministerpräsident Söder seien eine "Brandmauer gegen rechts". "Diese Brandmauer hat keinen Riss, wir lassen uns das von niemandem schlechtreden." Dabei zitiert er die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch: "Sie sind unser Schutzpatron", habe diese einst zu Söder gesagt.
Mit Blick auf die Vorwürfe dürfe man eines nicht vergessen, fügt Reiß hinzu: "Tatsache ist auch: Einen Beweis, dass er das Flugblatt verfasst oder verbreitet hat, gibt es bis heute nicht." Aiwanger habe - zwar spät, jedoch immerhin - Einsicht gezeigt und sich entschuldigt. Für die CSU-Fraktion sei das Thema nach diesem Tag erledigt.
Freie-Wähler: "Nicht mit Biografien Einzelner aufhalten"
Für die Fraktion der Freien Wähler ergreift der Abgeordnete Florian Streibl das Wort: "Wir distanzieren uns von dem Inhalt des Flugblatts", betont er im Namen seiner Partei. Seine Fraktion habe "schon immer die Stimme gegen Antisemitismus erhoben". Zudem habe Parteichef Aiwanger "glaubhaft versichert", nicht Verfasser der Hetzschrift zu sein. "Er ist auch Mensch. Es fordert Mut, Fehler einzugestehen." Diesen Mut habe Aiwanger bewiesen.
Nach Ansicht von Streibl ist es an der Zeit, sich in den letzten Zügen des Wahlkampfs anderen Themen zu widmen. Man dürfe sich jetzt nicht "mit den Biografien Einzelner" aufhalten. "Die Frage, um die es hier geht, ist: Ist Hubert Aiwanger ein Antisemit? Und die Antwort lautet eindeutig: Nein, das ist er nicht! ", so Streibl.
AfD: Sammeln SPD-nahe Lehrer gezielt Informationen über Schüler?
Worte der Verteidigung für Aiwanger kommen auch aus der AfD-Fraktion: In den Augen des Fraktionsvorsitzenden Ulrich Singer wurde der Vize-Ministerpräsident "behandelt wie ein Schuljunge". Durch die Erklärung von Aiwangers Bruder Helmut müssten die ursprünglichen Berichte der "Süddeutschen Zeitung" zudem "als falsch bezeichnet werden", denn das Flugblatt stamme nicht aus der Feder des damals noch minderjährigen Wirtschaftsministers. Singer betont auch: "Die Vorwürfe liegen über 35 Jahre zurück." Der eigentliche Skandal sei seiner Meinung nach, "dass der Lehrer Schulgeheimnisse gesammelt hat". "Sammeln die SPD-nahen Lehrer auch über andere Schüler Informationen? Hat das Methode?", fragt Singer.
Eine Kampagne der Medien vermutet Ingo Hahn von der AfD-Fraktion: "Hubert Aiwanger wurde nach Erding der linksgrünen Presse zu unbequem", vermutet er mit Blick auf Aiwangers viel diskutierten Auftritt auf der Erdinger Heizungsdemo im Juni. Besonders kritisiert wurde der FW-Chef damals für seine Wortwahl ("Demokratie zurückholen"), die so manchen an die AfD und Donald Trump erinnerte.
Grüne und SPD scheitern mit Antrag auf Entlassung Aiwangers
Eine Befragung Aiwangers verhindern bereits zu Beginn der Sitzung CSU und Freie Wähler. Die Regierungsfraktionen lehnen einen entsprechenden Antrag zur Befragung sowohl Aiwangers als auch von Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ab. Die Geschäftsordnung des Landtags sehe dies nicht vor.
Auch einen Antrag, in dem Söder zur Entlassung seines Stellvertreters aufgefordert wird, hatten Grüne und SPD gestellt - sie scheitern jedoch auch damit: 19 Abgeordnete stimmen im Zwischenausschuss dafür, 32 dagegen. Enthaltungen gibt es nicht, wie der Vorsitzende des Zwischenausschusses, Thomas Kreuzer (CSU) erklärt.
Sollte sich Söder dazu entscheiden, Aiwanger zu entlassen, müsste er dafür jedoch ohnehin auch die Zustimmung des Landtags einholen. So sieht es die Bayerische Verfassung vor.
Zwischenausschuss erst zum siebten Mal einberufen
Der Zwischenausschuss ist ein spezielles Gremium, das in der Zeit kurz vor Landtagswahlen für die Beratung dringender Angelegenheiten zuständig ist, ihm gehören aktuell 51 der insgesamt 205 Abgeordneten an - also nur ein Viertel. Es ist erst das siebte Mal in der Geschichte des bayerischen Landtags überhaupt, dass der Zwischenausschuss einberufen werden musste.
Im Video: Kritik an Hubert Aiwanger bei der Sondersitzung im Bayerischen Landtag
Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes war einem "rechtspopulistischen Flugblatt" die Rede. Dies ist natürlich nicht korrekt, gemeint ist ein "rechtsextremes Flugblatt". Wir haben die entsprechende Stelle korrigiert.
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