In manchen Berliner Wahllokalen fehlten am vergangenen Sonntag Stimmzettel. Andere Wähler bekamen schlicht die falschen. Ihre Stimmen sind nun ungültig. Der Bezirkswahlleiter von Friedrichshain-Kreuzberg, Rolfdieter Bohm, drückt es in bestem Amtsdeutsch so aus: "Wenn ein nicht-amtlich vorgesehener Stimmzettel verwendet wird, ist die Stimme ungültig." Oder einfacher ausgedrückt: Ein Stimmzettel aus einem anderen Bezirk ist ein falscher Stimmzettel.
Auffällig viele ungültige Stimmen in 99 Wahlbezirken
Wie oft das vorgekommen ist, werde derzeit geprüft. Es könnte oft vorgekommen sein, darauf deutet eine Datenanalyse des Rundfunks Berlin Brandenburg hin: Demnach ist die Zahl der ungültigen Stimmen in 99 Berliner Wahlbezirken auffällig hoch. Wahlbezirke, in denen der ungültige Stimmanteil traditionell hoch ist, wurden hier schon herausgerechnet. Betroffen sind davon trotzdem mindestens 13.120 Stimmen.
Die Probleme waren offenbar bekannt
Bezirkswahlleiter Bohm sagt dem rbb, die Landeswahlleitung habe lange vor der Wahl gewusst, dass Stimmzettel falsch sortiert oder ausgegeben waren. Nämlich im August: "Da haben wir eine Stichprobe gemacht und bemerkt, dass nicht alle Stimmzettel, wie in den Schachteln beschriftet, richtig eingeordnet waren", sagt Bohm. Anschließend seien die Walvorstände gebeten worden, zu prüfen, ob sie die richtigen Stimmzettel hätten. Allein es half nicht viel.
Landeswahlleiterin zurückgetreten
Wahlsonntagchaos ohne Konsequenzen? So sah es zunächst aus. Die Landeswahlleiterin Petra Michaelis hat mittlerweile ihren Rücktritt angekündigt. "Ich übernehme die Verantwortung im Rahmen meiner Funktion als Landeswahlleiterin für die Umstände der Wahldurchführung am 26.09.2021.", teilte Michaelis am Mittwoch mit.
Ein Bezirk gibt "geschätzte Zahlen" heraus
Die Bezirke kämpfen derweil um die Frage, wie sie aus dem Desaster wieder herauskommen. Die Antwort des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf dürfte aus rechtlicher Sicht mindestens fragwürdig sein: Er hat nun Zahlen zur Wahl der Bezirksverordnetenversammlung veröffentlicht. Mehrere Wahllokale weisen identische Ergebnisse auf. Auf Nachfrage des rbb räumt der Wahlleiter ein, es handle sich um vorläufige, "geschätzte Zahlen".
Bayern FDP sieht Verhöhnung der Demokratie
Damit verhöhne der rot-rot-grüne Senat die Demokratie, schreibt Daniel Föst auf Twitter. Föst ist FDP-Landeschef in Bayern und wohnungspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion. "Teilweise sind in Berlin fast 40 Prozent der Stimmen zur Abgeordnetenhauswahl ungültig."
150 Prozent Wahlbeteiligung beim Volksentscheid
Berlin gibt auch nach dem vergangenen Wahlchaossonntag ein katastrophales Bild ab. So meldet der Berliner Tagesspiegel, dass es in mindestens 16 Wahlbezirken - Brief- und Urnenwahlbezirke zusammengerechnet - mehr abgegebene Stimmen als Wahlberechtigte gegeben haben könnte. Beim Volksentscheid, über den ebenfalls am Wahltag abgestimmt wurde, errechnet die Datenabteilung der Zeitung für insgesamt 1.382 Wahlberechtigte, 2.146 abgegebene Stimmen. Die Wahlbeteiligung läge demnach bei sagenhaften 150 Prozent.
Gibt es nun Neuwahlen in Berlin?
Eine Neuwahl wäre nur denkbar, wenn es eine "Mandatsrelevanz" gibt. Sprich: Wenn nachgewiesen werden könnte, dass die Wahlfehler sich auf die konkrete Zusammensetzung des Parlaments auswirken. Das sagt der Staatsrechtler Christian Waldhoff im Interview mit dem Tagesspiegel. Waldhoff war selbst als Wahlhelfer am Sonntag im Einsatz. Der Höhepunkt sei gewesen, als gegen 17 Uhr die Wahlzettel ausgingen: "Das ist so grotesk, dass ich kaum Worte dafür finden kann", sagt Waldhoff.
Vor allem was daraus folgte: Menschen, die nach 18 Uhr wählen konnten, aber bereits in der Schlange in ihren Smartphones die erste Prognose und später sogar schon die erste Hochrechnung verfolgen konnten. Deren Stimmabgabe war alles andere als unbeeinflusst. "Dadurch gibt es eine Beeinträchtigung der Unabhängigkeit der Wahlentscheidung", sagt Waldhoff. Aus seiner Sicht sei es möglich, dass die Wahl ungültig ist. Bedingung dafür sei aber, dass ein Kandidat oder eine Partei Beschwerde beim Landesverfassungsgericht einlegt.
Selbsthilfe: Wahlkabine aus Corona-Trennwänden gebaut
In Berlin ist die einzig verlässliche Hilfe oft die Selbsthilfe. Viele Berliner sind darin äußerst kreativ. Der Wahlhelfer Ruben Dieckhoff berichtet aus seinem Wahllokal im Stadtteil Wedding: "Mittags war klar, dass unsere Schlange zu lang wurde, da haben wir einfach improvisiert." Es hätten nur zwei Wahlkabinen zur Verfügung gestanden, sagt Dieckhoff gegenüber dem BR. Er und seine Kollegen bastelten daraufhin selbst eine zusätzliche Wahlkabine aus Corona-Trennwänden und Verpackungsmaterial. Mit Erfolg. In ihrem Wahllokal konnten sie fast pünktlich um 18 Uhr schließen. Selfmade-Normalität an einem irren Wahlabend.
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