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Bundestagswahl: Welche Bedeutung taktisches Wählen hat

Bundestagswahl: Welche Bedeutung taktisches Wählen hat

Bei der letzten Bundestagswahl splittete jeder Vierte seine Stimme – also wählte mit der Erststimme eine andere Partei als mit der zweiten. Welche Rolle spielt das taktische Wählen? Und was hat sich durch die Wahlrechtsreform geändert?

Über dieses Thema berichtet: Die Entscheidung am .

Knapp einen Monat ist es noch bis zur Bundestagswahl. Kanzler Scholz spricht von einer "Richtungsentscheidung", FDP-Chef Lindner sagt: "Es geht um alles". Wie vor jeder Wahl betonen Politiker aller Parteien die Wichtigkeit der Abstimmung – nach Ampel-Aus und in der Wirtschaftskrise noch mehr als in den Jahren davor.

Bei dieser wichtigen Abstimmung werden wieder Millionen Deutsche so wählen, wie es eigentlich nicht ihrer Parteipräferenz entspricht: Sie wählen strategisch und verzichten auf eine Stimme für die bevorzugte Partei. "Man antizipiert ein mögliches Wahlergebnis und versucht, durch seine Stimmabgabe dieses Wahlergebnis mitzubeeinflussen", erklärt Politikwissenschaftler Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel im BR24-Interview.

Jeder Vierte splittet seine Stimmen

Das kann sich verschieden äußern: Steht jemand einer Kleinpartei programmatisch am nächsten, könnte er trotzdem woanders sein Kreuz machen, weil seine eigentliche Präferenz an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern wird. Andere wählen eine Partei, die nicht ihre Nummer eins ist, weil sie eine bestimmte Regierungskoalition verhindern wollen.

Die bekannteste Form des taktischen Wählens ist das Stimmen-Splitting: Die Erststimme für den Direktkandidaten geht an eine andere Partei als die Zweitstimme. Bei der letzten Bundestagswahl macht das jeder vierte Wähler so. Seit der Jahrtausendwende waren es immer mindestens 20 Prozent.

Leihstimmen-Kampagnen der FDP

Man will damit den Wunsch einer bestimmten Koalition zum Ausdruck bringen und/oder sichergehen, dass die kleinere Partei über die Fünf-Prozent-Hürde kommt. "Dieses taktisch-strategische Wählen hat innerhalb der Lager eine große Rolle gespielt", erklärt Politikwissenschaftler Schroeder.

Besonders häufig war das in der Vergangenheit im bürgerlichen Lager: Viele Wähler gaben die Erststimme der Union und die Zweitstimme der FDP. Die Liberalen fuhren häufiger solche "Leihstimmen-Kampagnen". In den Jahren nach der Wiedervereinigung gab es aus der Union auch Signale in diese Richtung, seit einiger Zeit aber kommt von CDU/CSU lauter Widerspruch, wenn die FDP allzu offensiv um Unionswähler wirbt. CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt macht erst jüngst deutlich: "Keine Leihstimmen, egal an welche Partei".

Auch im rot-grünen Lager machen es viele Wähler so, dass sie mit der Erststimme SPD und mit der zweiten die Grünen wählen – auch wenn die Ökopartei weit weg von der Gefahr ist, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern.

Bedeutung der Lager nimmt ab

Allerdings ist das Stimmen-Splitting nicht auf Lagerdenken beschränkt. Bei der Bundestagswahl 2017 gab es nicht nur den bisher höchsten an Stimmen-Splitting (27,3 Prozent) – rund zehn Prozent der Wähler teilten ihre Stimmen lagerübergreifend auf, wählten beispielsweise mit der Erststimme CDU und mit der zweiten die Grünen. Hier dürfte die abnehmende Bedeutung der Lager eine große Rolle spielen – schwarz-grüne Bündnisse sind zumindest auf Landesebene mittlerweile Normalität.

Offenbar spielt auch Unwissen eine Rolle: Umfragen aus der Vergangenheit legen nahe, dass sich rund die Hälfte der Wahlberechtigten nicht über die Funktion von erster und zweiter Stimme im Klaren sind. Die Zweitstimme entscheidet über die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag – aber wohl aufgrund der unglücklichen Bezeichnung halten viele die erste für die wichtigere.

Welche Rolle spielt die Wahlrechtsreform?

"Eigentlich gab es schon im alten Wahlrecht keinen Anreiz, strategisch zu wählen", sagt Politikwissenschaftler Thorsten Faas von der FU Berlin im Gespräch mit BR24. Der Grund: die Rolle der Überhangmandate. Die entstanden, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Wahlkreise gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zusteht. Bis 2009 bekamen Union und SPD durch Überhangmandate einen höheren Abgeordnetenanteil im Bundestag. Seit 2013 wurden Überhangmandate aber ausgeglichen – andere Parteien konnten auffüllen, durch sogenannte Ausgleichsmandate.

Mit der neuesten Wahlrechtsreform sind Überhang- und Ausgleichsmandate abgeschafft worden. Parteien können nur noch Abgeordnete gemäß dem Zweitstimmenergebnis in den Bundestag schicken. Gewinnen sie mehr Wahlkreise, gehen die Kandidaten mit dem schlechtesten Erststimmen-Ergebnis leer aus.

"Splitting ist schwieriger geworden"

Die Folge: Die Erststimme hat im Vergleich zur Zweitstimme noch mal an Bedeutung verloren. "Das Splitting ist dadurch schwieriger geworden und die Parteien haben daraus die Konsequenz gezogen, dass sie mit einer Ablehnung des Splittings im Wahlkampf antreten", erklärt Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel.

Thorsten Faas von der FU Berlin ergänzt: "Was Wählerinnen und Wähler sich überlegen müssen, ist, ob sie mit ihrer Erststimme – wenn sie Sorge haben, dass ihr Wahlkreis verweist – nicht zu einem anderen Kandidaten wechseln." Doch den Effekt hält Faas für gering – auch er rechnet nicht damit, dass es ein großes Maß an strategischem Wählen geben wird.

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