Der Pulverdampf der vergangenen Woche liegt zwar noch in der Luft, aber – wie das so ist im politischen Betrieb – längst nicht mehr so schwer und so drückend. Rückblick: Am Mittwoch legten CDU und CSU einen Entschließungsantrag vor, der eine Verschärfung der Migrationsregeln vorsah. Rechtlich nicht bindend, aber von hohem Symbolwert. Der Antrag erhielt eine Mehrheit, weil neben FDP und einigen fraktionslosen Abgeordneten vor allem die AfD geschlossen dafür gestimmt hatte.
Der Aufruhr im Plenum war groß, Rolf Mützenich (SPD), der Fraktionsvorsitzende, sprach davon, dass sich "das Tor zur Hölle einen Spalt" geöffnet habe. Annalena Baerbock (Grüne) von der "Schande von Mittwoch". Friedrich Merz (CDU), Mützenichs Konterpart, bedauerte, was geschehen war. Am Freitag wiederholte sich das Prozedere, nur dass dieses Mal ein Gesetzentwurf zur Abstimmung stand, der letzten Endes durchfiel, weil vor allem viele FDP-Abgeordnete der Abstimmung ferngeblieben waren.
Aufgeheiztes Parlament: Wahlkampf, AfD und Minderheits-Regierung
Wie viel verbrannte Erde hat diese vergangene Woche im politischen Berlin hinterlassen? Wie viel Wahlkampf steckt in den Aussagen, die zum Teil schwerwiegende Angriffe auf den politischen Konkurrenten beinhalteten?
Der Unterschied zu früheren Wahlkämpfen liegt zum einen darin, dass mit der AfD ein Player im politischen Spektrum etabliert ist, der die Auseinandersetzungen der politischen Mitte, also zwischen Union, SPD, Grünen und FDP, genüsslich von der Seite betrachten kann und indirekt davon profitiert. Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, jubelte denn auch nach der Abstimmung am Mittwoch: "Jetzt und hier beginnt eine neue Epoche. Jetzt beginnt etwas Neues – und das führen wir an. Das führen die neuen Kräfte an, das sind die Kräfte der AfD. Sie können folgen, Herr Merz, wenn Sie noch die Kraft dazu haben."
Zum anderen wäre die Debatte im Bundestag nicht so hitzig, wenn die Mehrheitsverhältnisse nicht so instabil wären, wie sie nach dem Auseinanderbrechen der Ampel-Regierung gerade sind. Würde die rot-grün-gelbe Regierung noch bestehen und hätte eine Mehrheit, würde die Debatte, dass die AfD der Union zu einer Mehrheit verhilft, nicht diese Intensität bekommen: Union und AfD hätten schlicht keine Mehrheit.
Parteien mit inhaltlichen Schnittmengen
Losgelöst von der Asyldebatte zeigt ein Blick auf Inhalte jedoch, dass die etablierten Parteien längst nicht so viele profunde Differenzen aufweisen. Einigkeit herrscht bei SPD, Grünen, CDU/CSU und FDP beispielsweise darin, dass sie nicht nur die Stromsteuer, sondern vor allem die Netzentgelte senken wollen, um Wirtschaft und Bevölkerung zu entlasten.
Auch die Außen- und Verteidigungspolitik bietet Potenzial zur Übereinstimmung: Grüne und Union hätten etwa in der Ukraine-Politik bisher mehr Unterstützung für die Ukraine gewagt als Bundeskanzler Olaf Scholz von der SPD. In den Wahlprogrammen von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP ist übereinstimmend von zwei Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben die Rede – mindestens.
Politikwissenschaftler: Es geht um Macht
Was vergangene Woche im Bundestag aufgeführt worden war, hat daher "nichts mit Inhalten zu tun, sondern mit Macht", meint Politikwissenschaftler Wolfgang Schröder im BR24-Interview. Die aufgeheizte Debatte mit persönlichen Angriffen habe zwar "tiefe Gräben" hinterlassen, unüberwindbar seien diese aber nicht.
So sieht es auch Politikwissenschaftlerin Ursula Münch im BR24-Interview. Sie betont neben inhaltlichen Schnittmengen vor allem den Wunsch, "an der Regierung beteiligt zu sein". Viel dringlicher sei aber der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung. Münch spricht von einer großen Distanz des Bundestags – politische Diskussionen stünde oft im krassen Gegensatz zu dem, was vor Ort in den Kommunen an Problemen vorherrschten: Bildungspolitik, Integration, zu wenig Wohnraum, Überregulierung – "das treibt die Leute viel mehr um, als die Befindlichkeiten von Berliner Politikern." Dieser Druck aus der Gesellschaft "ist so groß, die Unzufriedenheit ist so groß: Das muss doch die Schnittmenge schaffen zwischen den demokratischen Parteien."
Münch und Schröder richten den Blick pragmatisch nach vorne: Es habe vergangene Woche zwar im Bundestag geraucht, aber verbrannte Erde sehen sie bislang nicht. Eine Zusammenarbeit der etablierten Parteien sei weiterhin möglich – spätestens nach der Bundestagswahl.
Union, SPD, Grüne: Zusammenarbeit trotz Wahlkampf
Dass Rote, Grüne, Schwarze und Gelbe auch jetzt, während der Wahlkampf läuft, durchaus zusammenarbeiten, beweisen einige Gesetzesvorhaben, die fraktionsübergreifend beschlossen wurden. SPD, Grüne und Union haben gemeinsam die Kraft für ein Energie-Paket aufgebracht: Mit den beschlossenen Gesetzen soll etwa das Stromnetz besser für erneuerbare Energien gerüstet werden.
Ein Meilenstein ist auch in der Frauenpolitik gelungen, indem das "Gewalthilfegesetz" verabschiedet wurde – und damit mehr Schutz für Frauen, die von Gewalt betroffen sind.: Erstmals steigt die Bundesregierung mit 2,6 Milliarden Euro über zehn Jahre in die Finanzierung von Frauenhäusern mit ein. Mit der Reform der Stiftung Preußischer Kulturbesitz konnte auch eine Einigung in der Kultur erreicht werden, um die Stiftung für die Zukunft besser und effizienter aufzustellen. All das zeigt: Es geht dann eben doch.
Dass die Parteien die fraktionsübergreifenden Erfolge weniger stark hervorheben, "halte ich für nachvollziehbar", meint Politikwissenschaftlerin Jasmin Riedl im BR24-Interview. Im Wahlkampf werde der Fokus auf Unterschiede gelegt. "Dann kriegt im Wettbewerb der die meisten Stimmen, der das lauteste und emotional überzeugendste Angebot macht." Für Riedl auch eine "Spiegelung der Erwartungen der Gesellschaft – und die Widersprüchlichkeit der Erwartungen": Einerseits wollen Bürger keinen politischen Streit, andererseits sollen die Parteien unterscheidbar sein.
Im Video: CDU-Parteitag in Berlin
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