Israel habe keine andere Wahl, als in Rafah einzumarschieren, beschied Israels Premierminister Benjamin Netanjahu dem Moderator der Sonntags-Talkshow "This Week" des US-Senders ABC. Diejenigen, die Israel aufforderten, dies unter keinen Umständen zu tun, "sagen im Grunde, dass wir den Krieg verlieren und die Hamas dortbehalten sollen." Der Sieg sei in Reichweite. Das müsse man verstehen. Das sei nicht nur für Israel "das Beste, sondern auch für die Palästinenser selbst."
Wohin denn die Menschen dann flüchten sollten, die dort größtenteils in Zelten unter freiem Himmel lebten, wollte der ABC-Moderator von Netanjahu wissen. "Die Gebiete, die wir nördlich von Rafah geräumt haben, es gibt dort viele Gebiete. Aber wir arbeiten einen detaillierten Plan aus, um dies zu tun."
US-Präsident Joe Biden habe in einem Telefonat am Sonntag Netanjahu aufgefordert, keine Militäroperation in Rafah zu beginnen, ohne einen "glaubwürdigen und umsetzbaren Plan" zu haben, der die Sicherheit und die Versorgung der Menschen garantiere. Sie konnten einfach "nirgendwo hin", wie das Weiße Haus im Anschluss an das Gespräch Bidens mit dem israelischen Premier erklärte.
Drohende Panik unter den Flüchtlingen in Rafah
Es sei die schlimmste Bombennacht gewesen, seit er vor einem Monat mit seiner Familie nach Rafah geflohen sei, wie die Nachrichtenagentur Reuters den palästinensischen Geschäftsmann Emad heute Vormittag zitiert, einen Vater von sechs Kindern. "Der Tod war so nah, als Granaten und Raketen 200 Meter von unserem Zeltlager entfernt einschlugen." Es seien mindestens 67 Menschen bei den nächtlichen Luftangriffen in Rafah getötet worden, so das palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza gegenüber Reuters. Die Rettungsaktionen seien im Gange, um Verschüttete zu bergen.
In der Nacht zu Montag hatten israelische Spezialeinheiten zwei Geiseln in einem Gebäude in Rafah aus der Gewalt der Hamas befreit und sie körperlich unbeschadet zu ihren Familienangehörigen zurückgebracht. Um die Kommandoaktion abzusichern, seien "Angriffswellen" von der Luftwaffe durchgeführt worden, sagte Armee-Sprecher Hagari am Morgen. Unter den Binnenvertriebenen in Rafah sei "Angst und Panik" ausgebrochen, berichtet die "New York Times".
Flucht nach Süden
Im Bezirk Rafah im Süden des Gaza-Streifens lebten ursprünglich rund 270.000 Einwohner. Jetzt befänden sich dort schätzungsweise 1,5 Millionen Menschen, die allermeisten seien Flüchtlinge aus dem Norden und der Mitte des Gaza-Streifens. Selbst die Zahl von 1,5 Millionen Menschen sei zu niedrig angesetzt, berichtete ein Augenzeuge am frühen Nachmittag BR24 aus der Region Rafah: "Man kann nicht einen Fuß vor den anderen setzen, ohne nicht auf jemanden zu treten." Unablässig würden weitere Vertriebene aus dem Norden in Rafah ankommen.
Seit Beginn des Krieges, der durch das Hamas-Massaker vom 7. Oktober ausgelöst worden ist, sind nach Angaben des palästinensischen Roten Halbmonds die Menschen immer weiter nach Süden geflohen. Sie seien den israelischen Evakuierungsbefehlen gefolgt. Es gebe Familien, die bereits zehn Mal evakuiert worden seien.
Der Gedanke, dass die israelischen Streitkräfte in Rafah einrücken könnten, versetze "die Bewohner der Stadt und die Binnenvertriebenen in Angst und Schrecken", analysiert Amira Hass. Die israelische Journalistin berichtet seit Jahrzehnten für die Tageszeitung "Ha’aretz" äußerst kundig über die Lage in den palästinensischen Gebieten. Der Schrecken, den die Menschen empfinden würden, werde durch die Schlussfolgerung verstärkt, "dass niemand Israel daran hindern kann, seine Absicht zu verwirklichen."
Israel vermutet die letzten vier Hamas-Bataillone in Rafah
Niemand in Israel zweifele daran, dass "Israel in Rafah operieren muss", heißt es heute in einem Kommentar der Tageszeitung "Israel Hayom", die Premierminister Netanyahu nahesteht. Der Grund: Die Hamas könne ohne den Einsatz in Rafah nicht vollständig besiegt werden. Ursprünglich habe der militärische Arm der Hamas über 24 Bataillone verfügt. Davon seien 18 nicht mehr im "militärischen Rahmen" einsetzbar, zwei Bataillone gebe es noch in der Mitte des Gaza-Streifens und vier in Rafah. Erst wenn die Rafah-Bataillone außer Gefecht gesetzt worden seien, könne Israel erklären, dass die militärische Macht der Hamas gebrochen worden sei.
Der Kommentator weiter: "Später, wenn die Regierungsinfrastruktur in Rafah getroffen ist, wird es im Gaza-Streifen keinen einzigen Ort mehr geben, den Israel im Rahmen seiner Entscheidung, die Herrschaft der Hamas im Gaza-Streifen zu beenden, nicht ins Visier genommen hat."
"Sie können nirgendwo zurückkehren"
Die israelische Armee habe eine "humanitäre Zone" ausgewiesen, die der Fläche des israelischen Flughafens Ben Gurion entspreche. Dabei handele es sich um den Strandabschnitt Al-Mawasi, im äußersten Süden des Gaza-Streifens. Ein Gebiet, das circa 16 Quadratmeter Kilometer groß sei. Diesen Vergleich zog die Tageszeitung "Ha’aretz". Nach der Auswertung von Satellitenaufnahmen des Gaza-Streifens titelte die Zeitung "Die Bewohner des Gaza-Streifens flohen aus ihren Häusern. Sie können nirgendwohin zurückkehren".
- Zum Artikel: "Endloses Grauen in Gaza? Täglich Hunderte Tote und Verletzte"
Mindestens die Hälfte aller Gebäude seien entweder zerstört oder beschädigt. Die meisten Zerstörungen gebe es im Norden, aber im Süden seien nunmehr "heftigen Kämpfe" im Gange. Die Rückkehr in ihre Wohnungen sei für einen Großteil der Binnenvertriebenen nicht mehr möglich. Das Gebiet Al-Mawasi, wo sich bereits jetzt schon Zehntausende Flüchtlinge aufhalten, habe keine Klinik, kein Krankenhaus, keine Solar-Panels zum Aufladen der Handys, keine Wasseranschlüsse. Und, so "Ha’aretz", Hilfsorganisationen müssten "durch oder in die Nähe von Kampfgebieten fahren, um die geringen Mengen an Nahrungsmitteln zu verteilen, die in den Gaza-Streifen gelangen."
Karte: Die militärische Lage im Gazastreifen
Im Video: Das israelische Militär befreit zwei Hamas-Geiseln
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