- Direkt zum aktuellen Artikel: Evangelische Missbrauchsstudie: "Spitze der Spitze des Eisbergs"
Detlev Zander hat als Kind selbst sexuellen Missbrauch erlebt: In einem Kinderheim der evangelischen Brüdergemeinde nahe Stuttgart – in den 60er und 70er Jahren war das. Heute ist er Sprecher der Betroffenenvertretung in der Evangelischen Kirche Deutschlands. Er kritisiert, "dass insgesamt die Aufarbeitung sehr, sehr schlecht ging, bis heute, und dass viele, viele Landeskirchen und viele Verantwortliche in den Landeskirchen einfach versagt haben".
Betroffener vermutet hohe Zahlen auch bei der EKD
Lange Zeit habe sich die Evangelische Kirche, was die Aufarbeitung von Missbrauch angeht, hinter der katholischen Kirche versteckt, sagt Zander. Dafür aber gebe es keinen Grund, denn, so Zander: "Ich glaube, dass wir, was Zahlen angeht, nicht weit auseinander sind vom katholischen Kontext."
Als einer von mehreren Betroffenen war Zander als sogenannter Co-Forschender an der wissenschaftlichen Studie beteiligt, die nun erstmals ein umfassendes Bild vom Ausmaß sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche geben soll.
Katholische Kirche veröffentlicht bereits 2018 Missbrauchsstudie
Die katholischen Bischöfe hatten bereits 2018 eine akademische Studie zum Missbrauch Minderjähriger durch Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige veröffentlicht. Darauf weist auch der Rechtsanwalt Ulrich Wastl hin, dessen Kanzlei seit Jahren Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche untersucht.
Er könne sich "schwerlich eine Pressekonferenz vorstellen, in der Verantwortliche der evangelischen Kirche sitzen, in der 14 Jahre nach dem Canisius-Kolleg nicht klipp und klar erläutert wird, warum es 14 Jahre gedauert hat, dass diese Studie vorliegt", so der Anwalt.
Landeskirche: 1,5 Millionen Euro Unterstützungsleistungen gezahlt
Die bayerische Landeskirche verteidigt sich: Man sei beim Thema Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt schon weit gekommen. 75 Fälle seien in Bayern bereits von einer Anerkennungskommission bearbeitet worden, man habe 1,5 Millionen Euro an Unterstützungsleistungen gezahlt.
Trotzdem erwarte er die Studienergebnisse mit Spannung, sagt Landesbischof Christian Kopp: "Ich erhoffe mir schon, dass aus dieser Perspektive der Betroffenen nochmal Neues hereinkommt zu den vielen, vielen Schritten, die wir in den letzten 20 Jahren bereits gegangen sind. Wir sind ja nicht bei null, wir sind ja auf einem ganz hohen Niveau, verglichen auch mit vielen anderen Organisationen."
Einen vorzeitigen Einblick in die Studie hatte Kopp nach eigenen Angaben nicht. Er sei bereit, für die Ergebnisse Verantwortung zu übernehmen: "Also, wir erwarten da natürlich schon Dinge, die uns ganz schön zu denken geben werden."
"Evangelische Kirche muss sich strukturell radikal verändern"
Aus der Sicht von Detlev Zander sind – ganz anders als bei der katholischen Kirche – die flache Hierarchie und die föderalen Strukturen der evangelischen Kirche Gründe dafür, dass sexueller Missbrauch, wie in seinem Fall, in den vergangenen Jahrzehnten überhaupt möglich war.
Er fordert, dass die evangelische Kirche sich strukturell "radikal verändern" und auch an ihre "evangelische Grundordnung ran" müsse. "So wird es nicht mehr zu handeln sein", ist sich der Betroffenen-Sprecher sicher.
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