Darum geht's:
- Russische offizielle Stellen, sogenannte Alternativmedien und Internet-User verbreiten eine Behauptung über einen angeblich radioaktiven Zwischenfall in Europa.
- Bei einer Explosion in der Ukraine soll Munition mit abgereichertem Uran zerstört worden sein. Es gibt keine Belege dafür, dass diese Munition zerstört wurde.
- Ebenfalls keine Hinweise gibt es auf erhöhte Radioaktivität in Polen oder Deutschland. Die Strahlenwerte sind laut Aufsichtsbehörden vollkommen normal.
Die Ukraine war vor 37 Jahren Schauplatz der größten Katastrophe bei der zivilen Nutzung von Kernkraft: Damals noch auf dem Gebiet der Sowjetunion, explodierte in der Nähe der ukrainischen Stadt Pripyat ein Reaktor des Atomkraftwerks Tschernobyl. Die Auswirkungen waren in großen Teilen Europas spürbar.
Russland schürt mit einer Falschbehauptung nun Ängste vor einem ähnlichen Szenario: eine neue radioaktive Gefahr aus dem Osten drohe. Das behauptete der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, am vergangenen Freitag (19. Mai 2023): Eine radioaktive Wolke bewege sich angeblich auf Westeuropa zu. In Polen sei bereits erhöhte Radioaktivität gemessen worden.
Patruschews Behauptung bezieht sich auf eine Explosion außerhalb des ukrainischen Ortes Chmelnyzkyj am 13. Mai 2023. Die Stadt liegt im Westen der Ukraine gut 280 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt. Dort sei bei einem russischen Angriff Munition mit abgereichertem Uran zerstört worden, sagte Patruschew.
Keine Beweise für Behauptung über erhöhte Radioaktivität
Für diese Behauptung gibt es keinerlei Belege. Offizielle Stellen wie das Bundesamt für Strahlenschutz können keine unnatürlich erhöhten Strahlenwerte in Deutschland oder Polen feststellen.
Der #Faktenfuchs hat dazu das in Deutschland zuständige Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) angefragt. Das BfS schreibt in seiner Antwort: "Eine einzelne ukrainische Sonde südlich der Stadt Chmelnyzkyj zeigt seit dem 11. Mai minimal erhöhte Radioaktivitäts-Werte. Diese bewegen sich im natürlichen Schwankungsbereich und sind so gering, dass radiologische Auswirkungen auf Mensch und Umwelt ausgeschlossen sind."
Dass die Explosion in Chmelnyzkyj damit zusammenhängt, "ist schon wegen des zeitlichen Ablaufs sicher ausgeschlossen", so das BfS. Denn die Explosion ereignete sich am 13. Mai, die leicht erhöhten Werte wurden bereits am 11. Mai gemessen.
Für solche leicht erhöhten Messwerte könne es viele Gründe geben, zum Beispiel "Defekte und technische Fehler, lokale Begebenheiten vor Ort oder das Umstoßen der Sonde und eine dadurch entstehende leichte Messabweichung".
Selbst falls bei der Explosion abgereichertes Uran freigesetzt worden wäre, wäre dies nur für die Region dort von Belang, schreibt das BfS: "Ein Transport dieser radioaktiven Stoffe bis nach Deutschland in gesundheitlich bedenklichem Umfang ist ausgeschlossen."
Gerüchte über zerstörte Uran-Munition
In Chmelnyzkyj kam es am 13. Mai 2023 nach einem russischen Drohnenangriff zu einer Explosion, es entstand eine mehrere Hundert Meter hohe Rauchwolke. Ukrainische Medien berichteten über die Explosion, die Militärverwaltung des ukrainischen Bezirks sprach davon, dass "kritische Infrastruktur" getroffen worden sei. Bereits am 13. Mai verbreitete ein User auf Twitter in einem Beitrag mit hoher Reichweite, dass dort ein Munitionslager zerstört worden sei. Für diese Aussage gibt es keine Quellen.
In kurzer Zeit verbreitete sich im Internet das Gerücht, dass dort Munition mit abgereichertem Uran zerstört worden sei, zum Beispiel hier und hier. Diese sogenannte DU-Munition ist panzerbrechend, wurde von Großbritannien an die Ukraine geliefert und ist für den Challenger-2-Panzer gedacht, wie die britische Regierung im April bekanntgab.
Die Explosion dieser Stoffe - so die Behauptung, die sich nach #Faktenfuchs-Recherchen nicht bestätigen lässt - führe nun zu einem Anstieg radioaktiver Strahlung. Plausible Belege dafür liefern die User, die das in ihren Tweets schreiben, nicht. Ob diese Munition überhaupt in Chmelnyzkyj lagerte und bei der Explosion tatsächlich zerstört wurde, ist nicht bekannt.
Die angeblich zerstörte Uran-Munition wurde dann sowohl von Nikolai Patruschew vom russischen Sicherheitsrat, als auch von deutschen Webseiten und sogenannten Alternativ-Medien aufgegriffen und verbreitet. Diese hatten in der Vergangenheit bereits Unwahrheiten und pro-russische Propaganda über den Ukraine-Krieg verbreitet.
Die Behauptung, eine radioaktive Wolke ziehe über Europa, wurde auch von der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Tass sowie dem russischen Staatssender RT verbreitet, sowohl im englischen als auch im deutschen Programm. Ausschnitte dieser Programme wurden dann wiederum auf der Social-Media-Plattform TikTok geteilt.
Behauptung folgt laut einem Experten typischen russischen Mustern
"Ein typisch russisches Konstrukt" an Desinformation nennt Lutz Güllner die Verbreitung dieser Behauptung. Güllner ist Leiter der Strategischen Kommunikation im Europäischen Auswärtigen Dienst der EU und Chef einer Taskforce gegen Desinformation. Rund um einen wahren Kern, hier die Explosion, würden falsche Informationen hinzugefügt. Damit sollen bestimmte Themen aufgegriffen und angegriffen werden, sagt Güllner: "Man hat es sofort mit den Waffenlieferungen verbunden, um diese zu diskreditieren." Außerdem bediene man die Angst vor Eskalation und Atom-Unfällen.
"Nicht neu, aber bemerkenswert" sei die Tatsache, dass eine wichtige Person in der russischen Regierung die Behauptung aufgegriffen und weiterverbreitet habe. Die ursprüngliche Behauptung wird damit gewissermaßen von offizieller Seite "validiert" und multipliziert.
Eine neue Eskalationsstufe in der pro-russischen Desinformation sieht Güllner aber nicht. "Desinformationsnarrative versuchen, an Historisches und Erfahrbares anzuknüpfen", sagt er. Das Bild der "radioaktiven Wolke" rufe Erinnerungen an den Tschernobyl-Unfall bei den Menschen wach.
Keine unnatürlich hohe Radioaktivität in der Ukraine und Polen
Bei der Verbreitung der Falschnachricht wird auf angeblich erhöhte Radioaktivitätswerte in der Ukraine und Polen hingewiesen. Die radioaktive Strahlung wird in der sogenannten "Ortsdosisleistung" mit der Einheit Nanosievert pro Stunde gemessen. Die Werte lassen sich für alle Messstationen in ganz Europa über eine Webseite der Europäischen Union recherchieren.
Die Ortsdosisleistung in Chmelnyzkyj soll laut einer Behauptung auf Twitter am 12. Mai angestiegen sein - was noch vor der Explosion liegen würde. Tatsächlich steigt der Wert aber bereits am 11. Mai stärker an, bis auf 148 nSv/h. Eine zeitliche Verknüpfung mit der Explosion lässt sich damit also nicht belegen.
In Chmelnyzkyj gab es auch bereits vor dem Ereignis einzelne Ausschläge der Ortsdosisleistung, zum Beispiel am 01. Mai (113 nSv/h) und am 04. Mai (113 nSV/h). Ungewöhnlich ist das jedoch nicht: Werte in diesem Bereich werden auch in Bayern immer wieder an einzelnen Tagen gemessen, zum Beispiel in Abenberg in Mittelfranken am 12. Mai (123 nSv/h) oder in Mittelneufach in Schwaben am 16. Mai (135 nSVvh). Die bayerischen Stationen wurden zufällig ausgewählt.
Zeitraum ist irreführend gewählt
Für Polen werden als angebliche Belege Werte der Station der Maria-Skłodowska-Curie-Universität in Lublin herangezogen. Lublin liegt im Osten Polens. Die höchste Ortsdosisleistung im Mai betrug in Lublin am 15. Mai um 12 Uhr 123 nSV/h.
Der gewählte Wert ist aber irreführend. Betrachtet man nämlich die Ortsdosisleistung des gesamten Jahres 2023 für Lublin, dann sieht man: Es gibt immer wieder solche einzelnen Ausschläge in dieser Höhe. Zum Beispiel am 02. Mai (120 nSv/h) und am 06. Mai (112 nSv/h). Mitte April dieses Jahres wurde zum Beispiel bereits ein Wert in Höhe von 128 nSv/h gemessen, wie man in der Grafik unten sieht. Die Werte, die nach der Explosion als angeblicher Beleg genutzt werden, sind also in der Gesamtbetrachtung unauffällig.
Werte sind üblich bei Regen und kein Risiko für die Gesundheit
Die staatliche Atomenergiebehörde in Polen erklärte dazu auf ihrer Webseite, dass diese "Ausschläge" ein natürliches Phänomen seien. Diese Werte würden vor allem bei Niederschlägen auftreten. Auch das BfS erklärt auf #Faktenfuchs-Anfrage, dass durch Regen radioaktive Stoffe in der Luft ausgewaschen werden können und sich so die Messwerte lokal erhöhen können.
In den verbreiteten Messwerten aus Lublin fällt vor allem ein Anstieg des Wertes für Bismut-214 am 15. Mai auf. Bismut-214 ist eine Atomart des chemischen Elements Bismut. Die polnische Atomenergiebehörde schreibt auf ihrer Webseite: "Wenn es regnet, werden Bismut-214-haltige Aerosole von der Erdoberfläche aufgewirbelt und auch aus der Atmosphäre ausgewaschen (...) Diese Werte sind niedrig und stellen kein Risiko für Leben und Gesundheit dar."
Die Expertinnen und Experten des BfS haben sich die Bismut-Werte aus Lublin ebenfalls genauer angesehen. Der gemessene Wert in Lublin "entspricht den Erfahrungswerten bei Niederschlag und deckt sich auch mit den Angaben zu den Niederschlagsmengen". Weil die Werte nach dem 16. Mai wieder gesunken seien, deute das ebenfalls auf Niederschläge als Ursache hin, so das BfS.
Fazit
Es gibt keine Belege dafür, dass sich eine "radioaktive Wolke" auf Europa zubewegt. Diese Behauptung wurde im Internet, von Seiten der russischen Regierung und von pro-russischen Medien wurde verbreitet. Ein Experte der EU ordnet dies als typisches russisches Desinformations-Konstrukt ein.
Die angeführten Strahlenwerte von Orten in der Ukraine und in Polen bewegen sich nach Auskunft von staatlichen Aufsichtsbehörden im normalen Bereich. Einzelne Ausschläge seien auf Regen zurückzuführen, ein Vorgang, der sich regelmäßig beobachten lasse.
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