Der Wegweiser zur Kirche in Hausham bei Miesbach steht noch. Dort allerdings, wo früher die evangelische Kirche war, ist heute eine Brache. Im Herbst 2019 wurde die Argula-Kirche entwidmet und abgerissen. Das Grundstück hat die evangelische Kirche an die Stadt verkauft.
Pfarrer Erwin Sergel erinnert sich an den Tag der Entwidmung: "Es war bewegend und traurig. Erst in der Kirche ein Gottesdienst, dann sind wir ausgezogen mit allem, was so zum Gottesdienst wichtig ist. Die Glocken haben noch einmal geläutet."
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Eine Kirche abreißen - gar nicht so einfach
Fast 20 Jahre hat die Gemeinde überlegt, was mit dem Standort passieren soll, erzählt die Vertrauensfrau des Kirchenvorstandes, Betty Mehrer. Die Zahl der Gottesdienstbesucher war in dem ehemaligen Bergarbeiterdorf seit Jahren gering. Das Kirchengebäude war sanierungsbedürftig. Gleichzeitig hatte die Gemeinde angefangen, ihr Zentrum in der Innenstadt von Miesbach umzubauen und weiterzuentwickeln.
Eine Kirche abreißen - gar nicht so einfach: "Da sind ja Menschen getauft und konfirmiert worden und haben dort ihre Jugendzeit verbracht", sagt Mehrer. Es sei ein ganz langer und schmerzhafter Weg gewesen. "Aber es war nicht so, dass wir gesagt haben, wir geben diesen Standort auf, um einen andern Standort zu bauen, sondern es war klar, dieser Standort wird langfristig nicht zu tragen sein."
Wie weiter gesellschaftlich relevant sein?
Zu überlegen, wie Kirche der Zukunft aussehen kann und wie sie auch gesellschaftlich relevant sein kann, das war das Anliegen der Miesbacher Protestanten. Gleichzeitig ist das eine Frage, die derzeit viele Gemeinden beschäftigt. Ob evangelisch oder katholisch, denn die Zahlen der Kirchenmitglieder gehen zurück.
Über kurz oder lang werden die Kirchensteuereinnahmen sinken. Langfristig hat das Folgen für die Gesellschaft, davon ist der Unternehmensberater Thomas Mitschke-Collande überzeugt. Mehr als ein Drittel der Kindergärten und Kindertagesstätten in Bayern seien in kirchlicher Hand. Auch Angebote der Jugendhilfe würden von den Kirchen organisiert, so Mitschke-Collande.
"Mit einem zunehmenden Rückgang der Mitgliederzahlen heißt das natürlich, dass hier viele dieser Dinge nicht mehr aufrechterhalten werden können. Die fallen entweder weg oder zum Beispiel soziale karitative Einrichtungen müssen dann von der Gesellschaft übernommen werden."
Mit der Kirche im Dorf fallen die letzten sozialen Treffpunkte weg
Fehlt die Kirche im Dorf, das erleben inzwischen immer mehr Gemeinden auf dem Land, fallen die letzten sozialen Treffpunkte weg, der kirchliche Jugendkeller etwa oder der Seniorenkreis. Wenn Kirchen schließen oder Pfarrstellen aufgegeben werden, gibt es aber auch keinen Seelsorger mehr, der ansprechbar ist für die Nöte und Sorgen der Menschen.
Thomas Mitschke-Collande, der seit Jahren die Entwicklung in den Kirchen beobachtet, sagt: "Was eben fehlt, ist die spirituelle Heimat, die man sozusagen in einer Kirchen-Gemeinschaft findet. Die geht zunehmend verloren." In Miesbach hat die evangelische Kirche deshalb umgedacht. Im Stadtzentrum hat die Gemeinde ihr Kirchenzentrum radikal umgebaut.
Zwischen Gemeindehaus und Kirche ist so ein großes Foyer mit einer offenen Küche entstanden. Hier stehen Kaffeetische, gemütliche Sessel, ein Wasser-Automat. Zwei Kinder machen an einem Tisch Hausaufgaben. Auf einer Bank ruht sich eine Frau aus.
"Die Austritte bedauern wir sehr", sagt Pfarrer Sergel. "Und es ist total schmerzlich, wenn man die Adressen bekommt, wer ausgetreten ist. Und dann schreibt man einen Brief und sucht Kontakt." Doch sei die Gemeinde dabei nicht stehengeblieben, "sondern wir schauen jetzt, dass wir hier in Kontakt kommen mit Menschen, dass wir ein Ort des Dialogs für die ganze Stadtgesellschaft sein können". Ganz konkret heiße das: Barrieren runter, Schwellen senken und Leute einladen.
Gemeinde eröffnet Haus der Begegnung
Mit Fördermitteln, unter anderem der Stiftung Mensch und der Europäischen Union, ist so ein Haus der Begegnung entstanden. Hier trifft sich der Integrationskurs der Volkshochschule, am Nachmittag kommen Schüler und Schülerinnen zur Schach-AG. Die Ehrenamtsagentur hat ihren Platz in dem Haus. Wenn Markt in Miesbach ist, öffnet ein Café seine Türen, bei dem Jugendliche mit Handicap kellnern. Mit Unterstützung der Fernsehlotterie konnte zudem eine Quartiersmanagerin angestellt werden. Täglich ist das Haus von 8 bis 18 Uhr geöffnet.
"Wir sind in Kontakt gegangen mit ganz vielen Playern an diesem Ort, auch mit der Kommune", erklärt der Pfarrer das Konzept. Die Frage, die sie dabei stets begleitete: "Was ist jetzt das Richtige für diese Zeit und für diesen Ort?"
Es ist ein Konzept, das aus Sicht von Erwin Sergel aufgeht. Mehr als 200 Ehrenamtliche engagieren sich in den unterschiedlichen Projekten im Haus, erzählt er. Die Kirche sei so zu einem Zentrum der Begegnung im Ort geworden, sagt Betty Mehrer - nicht nur für evangelische Gemeindemitglieder. "Die sind ganz oft katholisch, sind muslimisch oder in keiner Religionszugehörigkeit. Aber sie sind hier in diesen Gebäuden und sie treffen sich hier, sie trinken ihren Kaffee hier, sie suchen hier Gespräche. Und ich glaube, dass das der Weg ist, wie sich Kirche verändern wird. Es wird ein ganzes Stück weit natürlich nicht mehr in einer Mitgliedschaft sein."
Und das ehemalige Kirchengrundstück in Hausham? Hier will die Gemeinde nun einen Kinderhort bauen. Wann es so weit ist, ist noch unklar. Dann aber, so der Plan, soll die evangelische Diakonie die Trägerschaft übernehmen.
- Zum Artikel: Kann die Kirche die Menschen noch erreichen?
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