Der frühere Finanzminister Rishi Sunak ist neuer Parteichef der regierenden Konservativen in Großbritannien und wird damit auch neuer Premierminister. Im Rennen um die Nachfolge für die scheidende Premierministerin Liz Truss konnte sich Sunak innerhalb der Tory-Partei durchsetzen. Sunaks einzige verbliebene Konkurrentin Penny Mordaunt, aktuell Ministerin für Parlamentsfragen, zog ihre Kandidatur am Nachmittag zurück.
Sunak habe ihre volle Unterstützung, schrieb Mordaunt bei Twitter. Sie konnte nicht die für eine Kandidatur nötigen 100 Unterstützer innerhalb der Tory-Fraktion erreichen. "Rishi Sunak ist zum Chef der Konservativen Partei gewählt worden", bestätigte der Chef des zuständigen Fraktionskomitees, Graham Brady.
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Tory-Fraktion: Mehr als die Hälfte für Sunak
Schon am Mittag berichteten britische Medien, dass sich zu diesem Zeitpunkt mehr als 178 Abgeordnete der Konservativen öffentlich für den 42-jährigen Sunak ausgesprochen hatten. Das war bereits mehr als die Hälfte der Fraktion, die aus 357 Abgeordneten besteht.
Als Sohn indischer Einwanderer wird der in Southampton geborene Sunak der erste britische Regierungschef, der einer ethnischen Minderheit in Großbritannien angehört. Ausgerechnet am hinduistischen Feiertag Diwali kürte die Partei erstmals einen bekennenden Hindu zum britischen Regierungschef. Zudem wird Sunak der jüngste Premierminister seit mehr als 200 Jahren. Er wird an diesem Dienstag offiziell von König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt.
Das Land stehe vor einer "tiefen wirtschaftlichen Herausforderung", sagte Sunak in seiner ersten öffentlichen Reaktion nach seinem Sieg. Er kündigte an, sich für "Stabilität und Einheit" einsetzen zu wollen. Partei und Land zu einen sei seine "oberste Priorität", erklärte er.
Rücktritt von Liz Truss nach chaotischen Wochen
Die bisherige Premierministerin Truss scheidet nach sechs beispiellos chaotischen Wochen auf Druck ihrer Partei aus dem Amt. Ihr Vorgänger Boris Johnson brachte sich schnell für ein Comeback ins Gespräch, zog sich jedoch am Sonntagabend überraschend zurück. Mehrere Abgeordnete hatten zuvor gedroht, Johnson die Gefolgschaft als Premier zu verweigern oder gar die Partei zu verlassen. Über ihm schwebt noch immer eine Untersuchung, ob er in der "Partygate"-Affäre das Parlament belogen hat.
Seit Johnsons Absage lief laut Beobachtern alles auf Sunak als Sieger im innerparteilichen Wettkampf hinaus. Am Wochenende stellten sich auch Handelsministerin Kemi Badenoch und Ex-Innenministerin Suella Braverman vom rechten Rand der Partei hinter ihn. Innenminister Grant Shapps, der zu Sunaks Unterstützern gehört, hatte am Morgen in einem TV-Interview betont, der Favorit sei zwar entspannt, aber nicht der Meinung, dass er den Sieg schon "in der Tasche" habe. Zugute kommt Sunak, dass er im vergangenen Wahlkampf um die Parteiführung vor exakt jenem Finanzchaos gewarnt hatte, das Truss in ihrer kurzen Amtszeit mit ihrer Wirtschaftspolitik anrichtete.
Auch Kritik an Sunak – Neuwahlen gefordert
Allerdings weisen Experten darauf hin, dass auch Sunak bei weitem nicht die gesamte Partei und Fraktion hinter sich hat. Viele Mitglieder werfen ihm vor, mit seinem Rücktritt als Finanzminister den Sturz des an der Basis beliebten Johnson ausgelöst zu haben. Zudem weisen Kritiker auf das große Vermögen des wohl reichsten britischen Abgeordneten hin. Der frühere Investmentbanker ist mit der Tochter des Infosys-Gründers verheiratet, die einen Hunderte Millionen Pfund schweren Anteil an dem indischen IT-Giganten hält.
Angesichts der fehlenden Abstimmung bezweifelt die Opposition Sunaks demokratisches Mandat und fordert Neuwahlen. Der Chef der Liberaldemokraten, Ed Davey, sagte, mit Sunak hätten die Tories erneut einen "abgehobenen Premierminister installiert, ohne Plan, den Schaden zu beheben und ohne dem britischen Volk ein Mitspracherecht zu geben". Der Fraktionschef der Schottischen Nationalpartei (SNP), Ian Blackford, rief Labour-Chef und Oppositionsführer Keir Starmer auf, ein Misstrauensvotum gegen Sunak im Unterhaus zu beantragen.
Auch der innerparteiliche Jubel über Sunaks bevorstehenden Einzug in die Downing Street dürfte nicht lange andauern. Trotz des deutlichen Votums sind Fraktion und Partei gespalten. Der rechte Flügel fordert weiter eine radikalere Steuersenkungspolitik und eine harte Linie gegen die EU im Streit um Brexit-Sonderregeln für Nordirland. Wirtschaftsvertreter erhoffen sich eine ruhige Hand.
Sunak muss Partei einen – und die Labour-Partei einholen
Insbesondere in verarmten Gegenden im Norden Englands, oft traditionellen Labour-Hochburgen, könnte es der stets top gekleidet auftretende Ex-Banker als Wahlkämpfer schwer haben. In etlichen Wahlkreisen der sogenannten Red Wall schaffte es bisher nur Johnson mit seinem zerstreut-kumpelhaften Charme, Sitze für die Konservativen zu holen. Die Tories liegen in Umfragen weit abgeschlagen hinter der oppositionellen Labour-Partei. Den Abwärtstrend zu stoppen, wird wohl eine der größten Herausforderungen für Sunak sein, neben der schwersten ökonomischen und geopolitischen Krise seit Jahrzehnten.
Dabei ist es keine zwei Monate her, dass Sunak seine Hoffnung, britischer Premier zu werden, vorerst an den Nagel hängen musste. Nur rund sieben Wochen nach seiner Niederlage gegen Truss in der Frage nach Johnsons Nachfolge zieht der 42-Jährige jetzt also doch in die Downing Street ein.
Mit Informationen von AFP, dpa und Reuters
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