Volker Wissing steht vor einem glänzenden gelben Bus, umringt von Kameras und Menschen, die ihm diesen neuen Elektrobus erklären wollen. Offenbar in allen Details. Schwüle Hitze liegt über dem Parkplatz der Berliner Verkehrsbetriebe. Der Minister im dunkelblauen Anzug hört geduldig zu, fragt nach.
Während viele Ministerkollegen die Krawatte weglassen, mancher sogar den obersten Hemdknopf öffnet, bleibt Wissing eingeschnürt. Auch dann, als er den aufgeheizten Bus von Innen besichtigt: Er setzt die FFP2-Maske auf, schwitzt und lächelt darunter weiter stoisch. Selbstdisziplin - darüber verfügt der FDP-Bundesverkehrsminister wie kaum ein anderer.
Wissing hat ein Klimaproblem
Was Wissing zur E-Bus-Präsentation treibt, erklärt er auf Twitter: Es geht um den Klimaschutz. "Bis 2030 müssen im Verkehr die Emissionen von 146 Mio. Tonnen CO2 (2020) auf 85 Mio. Tonnen CO2 reduziert werden", schreibt Wissing. Eines der größten Probleme des Ministers ist derzeit, dass er das Klimaziel im Verkehrsbereich erreichen muss.
Bisher wurde das Ziel genau einmal nicht gerissen: 2020, als der Corona-Lockdown wie eine klimapolitische Notbremse wirkte. 2021 wurde das Ziel wieder um 3 Millionen Tonnen CO2 verfehlt, obwohl das Verkehrsaufkommen immer noch geringer war als vor der Pandemie. Und auch dieses Jahr scheint das Ziel bereits jetzt unerreichbar. Jedes Ministerium ist für das Erreichen der Klimaziele in seinem Bereich zuständig ist, deshalb musste Wissing liefern: ein Klimaschutzsofortprogramm, so will es das Gesetz.
Wie viel "sofort" steckt in den Klimaschutzmaßnahmen?
Es ist Mitte Juli. Bundesverkehrsminister Wissing steht im Ministerium und liest seine Sofortmaßnahmen vom Blatt ab: Er beginnt mit dem Ausbau der Ladeinfrastruktur für E-Autos, Ausbau der Radwege, Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Außerdem werde mehr im Homeoffice gearbeitet, womit ja auch CO2 eingespart werde.
Bis auf letztere Annahme sind das Maßnahmen, die Experten für langfristig wirksam halten: Der Ladeinfrastrukturausbau kommt nur langsam voran. Für den Ausbau der Fahrradwege sind die Kommunen zuständig, die aber erst einmal qua Änderung der Straßenverkehrsordnung dazu in die Lage versetzt werden müssten.
Und um den öffentlichen Nahverkehr streiten sich Bund und Länder wie die Kesselflicker. Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) beklagt, dass die Regionalisierungsmittel, über die der Bund die Länder beim Nahverkehrsausbau unterstützt, nicht einmal ausreichten, um das bestehende Angebot einigermaßen aufrechtzuerhalten. An Ausbau sei bei den gestiegenen Energiepreisen nicht zu denken. Was also soll da sofort helfen?
Expertenrat urteilt: "hinreichender Anspruch" fehlt
Wissing ist keine Verunsicherung anzumerken. In gewohnt zurückgenommener Art schließt er seine Präsentation mit einem Lächeln: Die Maßnahmen würden die 2021 entstandene CO2-Einsparungs-Lücke überkompensieren. Damit ist für ihn "der Beweis erbracht, dass Klimaschutz im Verkehr durch Motivation und Anreize möglich ist, ohne die Mobilitätsbedürfnisse der Gesellschaft einzuschränken". Gemeint ist wohl das Tempolimit, das von Umweltverbänden als sofort wirksam eingestuft, von der FDP aber kategorisch abgelehnt wird.
Der Expertenrat, ein Gremium, das die Maßnahmen im Auftrag der Bundesregierung evaluierte, kommt kurz darauf zu einem vernichtenden Ergebnis: Dem, was Bundesverkehrsminister vorgelegt hat, fehle schon im Ansatz der "hinreichende Anspruch", die Ziele zu erreichen. Sie evaluieren die Maßnahmen im Detail erst gar nicht. Man könnte sagen: glatte Sechs.
Wissing denkt strategisch
Und Wissing? Er hat seine Maßnahmen vorab ebenfalls von Wissenschaftlern prüfen lassen, verweist bei jeder Gelegenheit darauf, dass sie sehr wohl wirken werden. Dass Wissing strategisch denkt und vorgeht, hat er als FDP-Generalsekretär und Co-Architekt der Ampel bewiesen. Die Verschwiegenheit in der Ampel-Sondierungsphase, die unaufgeregte Abstimmung der drei Parteien untereinander, bevor Ergebnisse präsentiert wurden, das trägt auch seine Handschrift.
Die Probleme werden mehr beim Verkehr
Seit Wissing im Verkehrsministerium sitzt, wird der Stratege seltener sichtbar. Nach der Expertenrat-Schelte ergießen sich in den sozialem Netzwerken Spott und Häme über den Minister. Von einem verlogenen Bekenntnis zum Klimaschutz ist die Rede, Umweltverbände empören sich, und auch der Koalitionspartner greift an. Grünen-Chefin Ricarda Lang fordert öffentlich Nachbesserungen von Wissing ein.
Überhaupt hat das zunehmende Fremdeln der Grünen mit dem Koalitionspartner FDP viel mit verkehrspolitischen Themen zu tun. Mit einem Tankrabatt, den die Grünen nicht wollten, weil er aus ihrer Sicht ökologischer und sozialer Unsinn ist. Die Grünen stimmten zu, weil sie das 9-Euro-Ticket bekamen. Und die FDP, mit dabei Volker Wissing, hatte offenbar gut verhandelt. Genau wie beim Tempolimit, das aus dem Koalitionsvertrag flog, weil es eine rote FDP-Linie ist.
Wissing betont Bedeutung des Klimaschutzes
Man könnte Wissing als klassischen FDP-Politiker bezeichnen, der für schnelle Autos kämpft, gegen das Verbrenner-Aus, der mehr Geld in die Straße steckt und das Wort Tempolimit nicht in den Mund nimmt. Aber das greift zu kurz. Denn wer mit Wissing spricht, erlebt einen Minister, der wirklich auf den Umstieg auf die Schiene setzt, der tatsächlich für einen besseren öffentlichen Nahverkehr zu brennen scheint.
Die Bedeutung des Klimaschutzes betont Wissing bei jeder Gelegenheit. Man könnte daran zweifeln, wäre Wissing nicht bekennender Christ. Ein gewisses Interesse am Erhalt der Schöpfung läge zumindest nah. Woher kommt dann das, was Wiebke Zimmer von der Denkfabrik Agora Verkehrswende als "rasenden Stillstand in der deutschen Verkehrspolitik" bezeichnet?
Parteichef mit einer Vorliebe für Verkehrsthemen
Mit Christian Lindner hat Wissing einen Parteichef, der immer wieder direkt ins Verkehrsressort eingreift. Wissing hält das 9-Euro-Ticket für einen Riesenerfolg. Er könnte eingehen in die Geschichte als der Minister, der den jahrzehntelang vor sich hin gärenden deutschen Tarifdschungel trockengelegt hat. Anfang August zeigt er sich über einen Sprecher offen für eine Verlängerung des 9-Euro-Tickets. Lindner kassiert den Vorstoß als Bundesfinanzminister umgehend wieder ein: Das sei nicht finanzierbar. Und da kommt der selbstdisziplinierte Wissing zum Vorschein: Kein Wort mehr dazu.
Der eingeschnürte Volker Wissing vorm gelben Elektro-Bus in Berlin fordert die Bundesländer auf, einen Vorschlag für ein finanzierbares Ticket vorzulegen. Mit dem könnte auch Lindner leben. Während die Länder klar machen, dass der Bund das Ticket vollständig übernehmen müsse. Könnte sein, dass die historische Chance vorerst abgeräumt ist.
Wissing kann austeilen, man muss nur genau hinhören
Charakterlich scheinen der Richter und ehemalige Staatsanwalt Wissing und der Politikwissenschaftler Lindner recht unterschiedlich zu sein. Christian Lindner tritt breitschultrig auf, gönnt sich emotionale Ausbrüche wie den Vorwurf, das 9-Euro-Ticket fördere "Gratismentalität" und sei eher ein Ding von Linksradikalen. Wissing wirkt neben ihm hölzern. Er wägt seine Worte nach juristischer Korrektheit. Aber Wissing wirkt bescheiden. Er wird nicht laut und kanzelt nicht ab.
Und wenn er austeilt, muss man sehr genau hinhören, um es nicht zu überhören. So beim Festakt zur Übergabe des Verkehrsministeriums von Scheuer an Wissing. Vorgänger Andreas Scheuer (CSU) spricht lange über Ungerechtigkeiten, die ihm widerfahren seien, erzählt über die eigenen Verdienste. Der neue Bundesverkehrsminister Wissing spricht im Anschluss: Ein Regierungswechsel sei ein sehr würdiger Akt in der Demokratie. "Er kann eine große Ästhetik haben." Wissing betont das "Kann". Um dann den Musikern des Festakts zu danken. Sie hätten sehr dazu beigetragen.
Wissing wird nicht immer deutlich
Volker Wissing spricht gerne über den Wert der Freiheit, scheint aber mit seiner zurückhaltenden, leisen Art derzeit nur bedingt in eine Partei zu passen. Die FDP gibt sich alle Mühe, nach Wahlniederlagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen in diesem Jahr zumindest in Niedersachsen im Oktober zu punkten, und ist deshalb laut, wo es geht. FDP-Parteichef Lindner braucht einen Erfolg und hofft, ihn auch über verkehrspolitische Themen zu erreichen.
Wissing wirkt eingezwängt zwischen dem, was Lindner für finanzierbar hält und dem, was aus seiner Sicht nötig wäre. Was das ist, zeigt sich beim 9-Euro-Ticket: ein deutschlandweit gültiges Ticket. An anderen Stellen behält Wissing es für sich. Diszipliniert und lächelnd.
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