Tilmann Kleinjung
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Kommentar: Der Rücktritt von Annette Kurschus war unvermeidlich

Es ist das gute Recht von Annette Kurschus, sich gegen den schweren Vertuschungsvorwurf zu wehren. Die Art und Weise, wie sie das getan hat, disqualifiziert sie für das Amt der EKD-Ratsvorsitzenden, kommentiert Tilmann Kleinjung.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Mit ihrem zügigen Rücktritt erspart Annette Kurschus der evangelischen Kirche eine lange Hängepartie. Der Druck war gewaltig, sie hat nachgegeben und den Platz an der Spitze der evangelischen Kirche in Deutschland frei gemacht. Dass sie selbst diesen Rücktritt für unumgänglich, aber nicht unbedingt gerechtfertigt hält, macht sie mit ihrer denkwürdigen Erklärung überdeutlich. Die gipfelt in dem Satz: "Mit Gott und mir selbst bin ich im Reinen." Wo Selbstzweifel angebracht wären, spricht Selbstgerechtigkeit. Sie, die die Aufarbeitung des Missbrauchsskandals in der evangelischen Kirche zur "Chefinnensache" erklärt hatte, zeigt mit ihrer letzten Wortmeldung als EKD-Ratsvorsitzende, dass sie die Dimensionen dieses Skandals nicht verstanden hat.

Es geht um die Glaubwürdigkeit einer Institution, deren Kernkompetenz der Glauben ist. Wie glaubwürdig ist eine Kirche, deren Spitzenvertreterin beim ersten Vorwurf in nur zu vertraute Muster zurückfällt und in Bezug auf ihre Rolle von "Andeutungen und Spekulationen" spricht? Hatte sich die Kirche nicht vorgenommen, zuallererst die Betroffenen zu hören und ihren Erinnerungen zu trauen?

Nicht nur ein Kommunikationsdesaster

Was ist mit der viel beschworenen Transparenz bei der Aufarbeitung der kirchlichen Missbrauchsgeschichte? Annette Kurschus sah sich erst genötigt, zu dem Fall Stellung zu nehmen, als ihr die Veröffentlichung von Recherchen keine andere Wahl ließ. Das ist nicht nur ein Kommunikationsdesaster. Seit vielen Jahren beschäftigen sich die Kirchen mit dem Missbrauch in ihren Einrichtungen und Gemeinden. Da muss es der Selbstanspruch sein, sexualisierte Gewalt in den eigenen Reihen transparent und proaktiv aufzuarbeiten, auf Betroffene zuzugehen, Recherchen zu unterstützen, statt die zu diskreditieren, die Missstände aufdecken wollen. Seit einer Woche werde "in der Öffentlichkeit ein Konflikt geschürt", behauptet Kurschus und richtet damit den Blick auf die, die angeblich Konflikte schüren. Alles nur eine Kampagne?

Kein Wort des Bedauerns

Annette Kurschus kommt kein Wort des Bedauerns über die Lippen: Aber es gibt einen Satz in ihrer Rücktrittserklärung, der – zu einem früheren Zeitpunkt ausgesprochen – geholfen hätte: "Ich wünschte, ich wäre vor 25 Jahren bereits so aufmerksam, geschult und sensibel für Verhaltensmuster gewesen, die mich heute alarmieren würden." Dieser Satz ist entlarvend und gleichzeitig richtig. Die Standards von heute sind andere als vor 25 Jahren.

Annette Kurschus soll einen sexuellen Übergriff durch einen Kirchenmitarbeiter vertuscht haben. Es ist ihr gutes Recht, sich gegen einen solch schweren Vorwurf zu wehren. Die Art und Weise, wie sie das getan hat, disqualifiziert sie für das Amt der Ratsvorsitzenden. Ende Januar wird ein Forschungsverbund eine erste großangelegte Untersuchung zum Missbrauch in der Evangelischen Kirche und Diakonie veröffentlichen. Und da muss die Evangelische Kirche sprachfähig sein. Das wäre sie mit Annette Kurschus nicht mehr gewesen.

Annette Kurschus
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Annette Kurschus

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