Das Igelweibchen, das Sibille Zillinger vorsichtig aus seiner Box holt, macht einen erbärmlichen Eindruck: "Das sieht man eigentlich auf den ersten Blick, dass der sogenannte Hungerknick da ist. Das ist einfach fehlendes Fettgewebe. Das ist ein Zeichen, dass der Igel schon lange unterversorgt ist oder halt krank. Dann die fehlende kugelige Form, eingefallene Flanken, anliegendes Stachelkleid. Der stellt eigentlich die Stacheln gar nicht richtig auf."
Sibille Zillinger pflegt mit ihrem Mann Josef in ihrer Igelstation in Otzing im Landkreis Deggendorf pro Jahr rund 600 Tiere. Die erste Etage ihres Hauses haben sie in eine Art Klinik umgewandelt. Zwei Räume gibt es: Eine Quarantäne-Station und ein großes Zimmer für die Patienten. Die Räume sind hell gefliest, die Böden und die geräumigen Kunststoffboxen für die Tiere peinlich sauber.
Ausstattung wie in der Klinik
Es gibt eine Intensiveinheit wie in der Humanmedizin, nur eben angepasst für den Veterinärbereich. An der Wand der Quarantäne-Station steht ein Inkubator, in dem die Temperatur auf das Grad genau eingestellt werden kann. Auch die Luftfeuchtigkeit lässt sich regeln. Mit einem Inhalator können Medikamente zugesetzt, über ein weiteres Gerät die Igel mit Sauerstoff versorgt werden. Sibille und Robert Zillinger legen Wert auf eine professionelle Versorgung der Tiere. Damit haben sie einige Erfahrung: Sibille Zillinger arbeitet als Krankenschwester, ihr Mann ist gelernter Intensivpfleger. Die Station betreiben die beiden ehrenamtlich. Finanziert allein durch Spenden und auch mal ein Preisgeld wie das für den Tierschutzsonderpreis des Bayerischen Umweltministeriums.
Schnittverletzungen durch Gartengeräte
Gemeinsam, wenn nötig auch mithilfe eines Tierarztes, können sie oft selbst schwerkranken Tieren helfen. Nicht nur bei Unterversorgung oder Infektionen, sondern auch bei Schnittverletzungen, die leider sehr häufig vorkommen. Die entstehen meist bei der Gartenarbeit, sagt Sibille Zillinger: "Das größte Problem sind diese Freischneider, wenn die Leute einfach so unter den Büschen mit diesen Tellersensen und Freischneidern bodennah reinschneiden." Der Igel, sagt Sibille Zillinger, habe im Sommer kein verstecktes Nest, sondern schlafe gerne im hohen Gras – oder unter Büschen und Sträuchern: "Und wenn dann mit diesen Gartengeräten bodennah reingefahren wird, dann erwischt es die halt seitlich und die werden richtig aufgeschlitzt."
Rettung nicht immer möglich
Ob das Tier nach einem solchen Unfall gerettet werden kann, hängt von der Art und der Schwere der Verletzung ab. Sibille Zillinger muss dann entscheiden: "Wenn das nur – in Anführungszeichen – Fettgewebe und Haut am seitlichen oder oberen Rücken ist, dann verheilt das relativ gut und schnell. Ist natürlich der Ringmuskel betroffen – also das ist dieser Muskel, der an der Grenze vom Stachelkleid am unteren Bauch rundum läuft, der dafür verantwortlich ist, dass sich der Igel zusammenrollen kann – wenn der verletzt ist, oder wenn Gliedmaßen betroffen sind, wenn das Gesicht so geschädigt ist, dass das einfach nicht mehr verheilen kann, das ist sein Todesurteil."
Qualvoller Tod durch Mähroboter
Verletzt werden die Tiere immer wieder auch durch Mähroboter, vor allem, wenn diese auch noch in der Dämmerung oder gar bei Dunkelheit laufen. Denn dann sind auch die nachtaktiven Igel unterwegs. Erfasst der Mähroboter das Tier, bedeutet das mitunter einen qualvollen Tod unter den rotierenden Messern. "Igel rollen sich bei Gefahr oft zusammen und verharren im Gras anstatt wegzulaufen", sagt Jenifer Calvi von der Deutschen Wildtier Stiftung, die den Igel zum "Wildtier des Jahres 2024" gewählt hat. "Dieses Verhalten wird ihnen beim Kontakt mit Mährobotern zum Verhängnis. Die scharfen Messer fügen den Tieren teils schlimme Wunden zu." Die Verletzungen, so Jenifer Calvi, seien oft schwer bis tödlich.
Warme Winter – Nahrungsmangel
Damit nicht genug: Auch die Klimaveränderung setzt den Tieren zu. In den immer wärmer werdenden Wintern wachen sie aus ihrem Winterschlaf auf, verbrauchen dabei Energie und finden dann nicht genügend Futter. Aber auch ganzjährig fehlt es an Futter – vor allem an solchem, das der Igel verträgt und dringend braucht. Als Insektenfresser leide er besonders unter dem Rückgang der Insekten, sagt Sibille Zillinger von der Igelstation in Otzing: "Jetzt findet er nicht mehr genügend natürliche Nahrung, greift dann auf Schnecken und Regenwürmer zurück. Die Nacktschnecke steht eigentlich ganz hinten auf dem Nahrungsplan des Igels. Aber wenn er nichts anders findet, dann frisst er halt die. Und die Nacktschnecken sind die Überträger der Innenparasiten."
Das Immunsystem versagt
"Wenn der ab und zu mal eine Schnecke frisst und er ein gesunder Igel ist, dann kann sein Immunsystem das super regeln", sagt sie. "Wenn er sich aber hauptsächlich von Nacktschnecken ernährt, hat er natürlich einen extrem hohen Parasiten-Druck. Und irgendwann schafft es das Immunsystem nicht mehr, das zu regeln. Und dann wird er immer dünner, immer schwächer und immer kränker und dann fällt das auf."
Behandlung nicht ohne Risiko
Wie eben bei der jungen Igeldame, die zurzeit in der Station behandelt wird, zusammen mit drei anderen Tieren. Wie lange sie bleiben muss, kann Sibille Zillinger nicht sagen. Sie sei gerade mitten in der Entwurmung: "Das ist immer sehr heikel, wenn der Allgemeinzustand von Haus aus schon so schlecht ist, weil ja diese ganzen durchs Wurmmittel abgestorbenen Larven oder Eier den Organismus noch zusätzlich belasten. Aber es bleibt oft keine andere Möglichkeit, weil behandelt man nicht, bricht irgendwann alles zusammen."
"Aufgeräumte Gärten" mit wenig Nahrung
Geholfen wäre den Tieren vor allem, wenn sie mehr natürliche Nahrung fänden. Vor allem solche, die sie gut vertragen. Genau da liegt aber das Problem. In den Städten finden sie zwar Gärten, aber eben nicht genug Futter und oft nicht das richtige. Passend wären vor allem Insekten: Laufkäfer, auch im Larvenstadium, also Engerlinge. Die sind eine Leibspeise der Igel und versorgen sie mit Protein. Wo die Gärten aber aufgeräumt sind, Rasen und Büsche akkurat gestutzt, wo kein Laub liegen bleiben darf, erst recht kein Totholz oder gar Kompost – da kommen auch keine Käfer vor.
Mehr "Unordnung" zulassen
Mehr "Unordnung" in den Gärten würde helfen: Den Insekten und den Tieren, die von ihnen leben, sowohl den Vögeln als auch den Igeln. Die Unordnung biete daneben auch den Schutz und Rückzugsraum, den der Igel so dringend braucht – sagt Angelika Nelson, Igel-Expertin beim Landesbund für Vogel- und Naturschutz (LBV): "Im eigenen Garten kann man ihm ganz einfach eine wilde Ecke einrichten, wo halt einfach Brennnesseln wachsen und wo auch Stauden stehenbleiben über den Winter, wo er sich verstecken kann, wo man auch das Laub liegen lässt, damit er da im Winter einen guten Platz für den Winterschlaf findet, einen geschützten." Wer wolle, könne zusätzlich auch noch ein Igelhaus aufstellen, sagt Angelika Nelson, das dem Igel vielleicht auch als Kinderstube dienen könne.
Wilde Paradiese voller Leben
Wie schön ein solcher Garten sein kann, beweist der von Heidi Bosch in Neumarkt-Sankt Veit im Landkreis Mühldorf. Gute hundert Meter nördlich des Stadtplatzes, jenseits einer viel befahrenen Straße, haben sie und ihr Mann Robert vor mehr als zwanzig Jahren eine an ihr Haus angrenzende Wiese gekauft und erst einmal abgemagert: Keine Düngung, keine Bewässerung, es wurde nur noch selten gemäht und die Mahd entfernt. So wurde die Wiese nährstoffärmer, die Artenvielfalt stieg. Blumen, Gräser und Kräuter siedelten sich an. Die 2.000 Quadratmeter sind heute zu einem kleinen Paradies geworden, voller Leben und dank vieler Bäume und Sträucher auch an heißen Tagen angenehm kühl.
Unterschlupf und Schutz für Igel
Mitten im Garten steht in der Wiese die hölzerne, leicht verwitterte Kanzel eines alten Hochsitzes. Die diente früher den Kindern als Versteck. Heute bietet sie Tieren einen Unterschlupf. Im kühlen Schatten einer großen Trauerweide liegt ein alter Totholzhaufen, den Heidi und Robert Bosch regelmäßig mit neuen Ästen und mit Laub "füttern", wie sie sagen. In ihm hat auch schon ein Igel überwintert. Aber der Totholzhaufen bietet nicht nur Igeln Wohnraum, sondern auch Käfern, Ameisen und anderen Insekten. Ebenso wie die drei großen Komposthaufen im hinteren Bereich des Gartens.
Reichlich gute Nahrung
Da könnten die Igel am Randbereich gut Insekten finden, sagt Heidi Bosch. Das Wichtigste sei bei den Igeln, dass sie einen gesicherten Unterschlupf und Nahrung haben, vor allem Käfer. "Wenn man Käfer möchte, braucht man einen naturnahen Garten. Nur dann sind Käfer da." Für den Landesbund für Vogel- und Naturschutz bewertet Heidi Bosch regelmäßig auch andere Gärten – auf Bitten der Besitzer, die wissen wollen, wie insektenfreundlich und damit auch vogel- und igelfreundlich ihre Gärten sind. Und die sich durch die Auszeichnung durch den LBV auch etwas Unterstützung erhoffen.
Probleme mit den Nachbarn
"Der Grund für die Bewertung oder dass sie sich da angemeldet haben", sagt Heidi Bosch, "war bei manchen, dass sie Probleme mit den Nachbarn haben, weil es bei ihnen unordentlich ausschaut, weil da halt ein paar Brennnesseln stehen oder weil nicht jede Woche gemäht wird, weil das Gras halt ein bisserl höher steht oder die Sträucher stark wachsen." Wenn die dann vom LBV ausgezeichnet würden als "vogelfreundlicher Garten" mit einer deutlich sichtbaren Plakette am Zaun, sagt sie, könne das schon zu etwas mehr Akzeptanz beitragen.
Durchgänge schaffen, Gärten "vernetzen"
Eine ähnliche Auszeichnung bietet Gartenbesitzern auch die Deutsche Wildtierstiftung, wenn sie igelfreundliche Durchlässe schaffen. Dahinter, erklärt Jenifer Calvi, steht der Wunsch, möglichst viele Gärten für die Tiere "barrierefrei" zu gestalten: "Der Weg in naturnahe Gärten wird für den Igel zum Hindernislauf, wenn Zäune bis zum Boden reichen und Mauern keine Lücken zum Durchschlüpfen haben." Ausgebremst durch Zaun und Mauer, suche sich das Tier dann andere Wege. Dabei gerate es schnell in Gefahr: "Ein hungriger Igel quetscht sich beispielsweise flach unter einem Drahtzaun hindurch und kann sich dabei verletzen. Oder er will auf der Suche nach Futter einen anderen Garten ansteuern, überquert dabei eine Straße und wird überfahren."
Geeignete Gärten werden gesucht
Geeignete Gärten sucht auch Sibille Zillinger von der Igelstation in Otzing. Denn wenn sie einen Igel, den sie gesund gepflegt hat, nicht da auswildern kann, wo er gefunden wurde, weil es dort – etwa an einer Straße – zu gefährlich wäre, sucht sie Menschen, die dem Tier einen geeigneten Garten anbieten können, eben etwas wild und "unordentlich" und vor allem: frei von Pflanzenschutzmitteln. Mehr von diesen Gärten bräuchte es auf jeden Fall bei uns, meint Angelika Nelson, die Igel-Fachfrau vom LBV. Ob der Igel bald auf der Roten Liste stehen wird? Ob er vielleicht ganz verschwinden wird?
Wird es der Igel schaffen?
Angelika Nelson meint, das sei eine schwierige Frage. Fehlende Lebensräume, die Gefahr durch Straßen oder Gartengeräte seien Faktoren. Aber auch die Frage, wie wir unsere Gärten gestalten und wie zugänglich sie für Igel sind. Das entscheide schließlich darüber, wie viele Käfer und Insekten der Igel findet, die er so dringend braucht. Ihr Rückgang macht Angelika Nelson Sorgen: "Ja, was ist, wenn dann plötzlich die Nahrungsquelle verschwindet für den Igel, dann ist das einfach ein großer Faktor, der dann wahrscheinlich zum Aussterben führen würde."
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