Der zweite Kriegswinter in der Ukraine wird trotz Eis und Schnee mit ungehinderter Härte geführt. Russland hat seine Angriffe noch einmal verstärkt. Die Gegenoffensive der Ukraine tritt offenbar auf der Stelle.
UN: Mehr als 100.000 getötete Soldaten
Erbitterte Kämpfe toben um Städte und Dörfer an der 2.400 Kilometer langen Front im Osten der Ukraine. Nach Schätzungen der Vereinten Nationen wurden auf beiden Seiten bis zu 100.000 Soldatinnen und Soldaten getötet.
Gleichzeitig geraten die Militärhilfen aus den USA ins Stocken. Im Kongress blockieren die Republikaner die Freigabe weiterer Mittel für die Ukraine. Deutschland gehört nach den USA und der EU zu den stärksten Unterstützern der Ukraine. Angesichts der Haushaltskrise gibt es auch hier eine politische Diskussion über die Militärhilfen.
Deutsche Militärhilfen für Ukraine trotz Haushaltskrise
Bisher sichern Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius der Ukraine aber zu, dass das neue 1,3 Milliarden Euro teure Hilfspaket mit Artilleriemunition, Antipanzerminen und Flugabwehrsystemen kommt. Pistorius sagte bei seinem jüngsten Besuch in der Ukraine wörtlich: "Wir werden einem Ende dieses Krieges nicht näherkommen, wenn wir diese Unterstützung reduzieren oder einstellen. Davon bin ich zutiefst überzeugt, deswegen ist das die klare Linie."
Auch Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg versucht, Zuversicht zu verbreiten. Bei einem Treffen mit dem ukrainischen Außenminister Dmytro Kuleba würdigte Stoltenberg vorige Woche den Abwehrkampf der ukrainischen Soldaten. Sie hätten 50 Prozent der von Russland eroberten Gebiete zurückgewonnen und den russischen Invasoren "enorme Verluste" zugefügt.
Die ukrainische Sicht: "Wir sind am Ende"
Tatsächlich aber macht sich in der Ukraine Ernüchterung breit, vor allem in den Truppen an der Front, die durch brutale Kämpfe im Schützengraben abgenutzt sind. Zuletzt ging ein 30-minütiges Video in der Ukraine viral, das ukrainische Soldatinnen und Soldaten unter russischem Beschuss im Osten bei Awdijiwka zeigt.
Mit ihren Kameras nahmen die Kämpfenden auf, wie sie das russische Feuer erwidern, Granaten werfen und sich vor heranrollenden Panzern verstecken. "Wir sind am Ende, wir sind alle müde", sagt die ukrainische Soldatin Olena Rysch über den aktuellen Zustand der ukrainischen Armee. "Wir haben niemanden mehr zum Kämpfen und der Feind wird immer aktiver."
Russland bekommt mehr Nachschub
Die ukrainischen Truppen sind in einer schwierigen Lage. Russland hat mehr Drohnen, mehr Artilleriegeschosse, mehr Männer. Die Zeit läuft aktuell für Russland, das sich seit Monaten auf einen langen Krieg einstellt und von Verbündeten wie Nordkorea oder dem Iran mit Waffen und Munition beliefert wird. Wer da mithalten wolle, müsse umdenken, fordern westliche Militär- und Sicherheitsexperten. Passiert sei bislang zu wenig, sagt Oberst Markus Reisner vom österreichischen Bundesheer: "Das Fass ist leer."
Eine Million Artilleriegranaten hatte die EU versprochen, geliefert werden können offenbar nur 300.000. Nordkorea hingegen hat nach Angaben des südkoreanischen Geheimdienstes eine Million Artilleriegeschosse an Russland geliefert. Und das in den vergangenen vier Monaten. "Es scheint, als habe Europa den Ernst der Lage nicht erkannt", befürchtet Oberst Markus Reisner.
Die russische Sicht: Ermüdungserscheinungen
Aber auch in Russland ändert sich die Stimmung. Ein Ende der sogenannten "Militärischen Spezialoperation", wie der Krieg gegen die Ukraine in Russland nach wie vor bezeichnet werden muss, ist nicht abzusehen. Kein Tag, an dem das russische Staatsfernsehen nicht ausführlich über das Vorgehen der russischen Armee berichtet. Die Streitkräfte hätten nicht nur die ukrainische Gegenoffensive erfolgreich abgewehrt, betont Verteidigungsminister Sergej Schoigu, sondern auch Schritt für Schritt die eigene Position verbessert.
Dass aber auch im zweiten Kriegswinter wieder und weiter um dieselben Orte und Städte gekämpft wird - um Awdijiwka zum Beispiel oder Kupjansk -, fällt in Russland trotzdem auf. "Es scheint Neuigkeiten von der Front zu geben, aber sie führen nirgendwo hin", fasst es der Gründer der unabhängigen Meinungsforschungsgruppe Russian Field, Artemij Wwedenskij zusammen. Der Meinungsforscher beobachtet, dass sich in der Bevölkerung Ermüdungserscheinungen breit machten.
Skepsis in der russischen Bevölkerung wächst
Unabhängige Umfragen sind in Russland möglich, aber heikel. Kaum jemand traut sich, seine ehrliche Meinung zu sagen. Auch die Fragesteller selbst sind bemüht, keine allzu großen Risiken einzugehen und fragen eher durch die Blume. Dennoch ergab die jüngste Umfrage von Russian Field, dass jeder Zweite den offiziellen Nachrichten zum Verlauf der Kämpfe in der Ukraine skeptisch gegenübersteht.
Erstmals haben sich zudem mehr Befragte für Friedensgespräche ausgesprochen als für eine Fortsetzung. Die Leute, sagt Wwedenskij, wollten ein Ende. Allerdings nicht auf Kosten Russlands und keinesfalls verbunden mit einer Rückgabe der Krim.
Sorge vor zweiter Mobilisierungswelle
Gleichzeitig geht in der russischen Bevölkerung die Angst vor einer zweiten Mobilisierungswelle um. Sechs von zehn Befragten sind gegen weitere Teil-Mobilisierungen. Schon Gerüchte darüber versetzen die Bevölkerung in Aufruhr. Zudem haben sich nun Ehefrauen und Mütter der Mobilisierten zu einer Bewegung zusammengeschlossen. Sie fordern mit immer mehr Nachdruck öffentlich die Rückkehr ihrer Männer und Söhne, die aus ihrer Sicht lange genug an der Front ausgeholfen haben.
Die militärische Spezialoperation, erklärte Maria Andrejewa, eine der Ehefrauen, im Interview mit dem Sender Nastojaschee Vremja, sei zwar eine notwendige Maßnahme. Aber letztlich Sache der Armee. "Wenn wir, entschuldigen Sie, einen militärischen Konflikt auf fremdem Territorium führen, dann sollte dies durch die Hände einer Vertragsarmee und nicht durch die Zivilbevölkerung geschehen", sagte Andrejewa.
Es ist ein Krieg, für den der russische Präsident Wladimir Putin weiter bereit ist, viel Geld auszugeben. Weit über 30 Prozent der Staatsausgaben sollen dem Haushaltsplan zufolge ans Militär gehen.
Im Audio: Der zweite Kriegswinter - die Stimmung in Russland
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