Es sind die Bilder der Grabenkämpfe, die tödlichen Drohnenschwärme über Kiew, Soldaten am Limit, die den Eindruck geben: Nach fast zwei Jahren Ukraine-Krieg macht sich Ernüchterung breit. Gerhard Mangott, Professor für internationale Beziehungen mit Schwerpunkt auf dem post-sowjetischen Raum an der Universität Innsbruck stellt im BR24-Interview für das neue "Possoch klärt" (Video oben, Link unten) fest: "In Summe hat Russland sogar mehr Territorium erobert als die Ukraine zurückerobern konnte bei der ukrainischen Militäroffensive seit Juni. Jetzt stellt sich die Frage, ob zusätzliche Militärhilfe an dieser Pattsituation etwas ändern würde."
Russland scheint mehr Drohnen, mehr Artilleriegeschosse, mehr Männer einzusetzen und geht an vielen Stellen der Front zum Angriff über. Auch, weil es sehr hohe Verluste dabei in Kauf nimmt. Derweil stockt die Unterstützung des Westens: Ein Paket von US-Präsident Joe Biden mit weiteren Hilfen für Kiew im Krieg gegen Russland hängt im US-Kongress fest. Laut Liana Fix vom Council on Foreign Relations in Washington, D.C., eine "ernste Situation": "Das darf und sollte Europa nicht auf die leichte Schulter nehmen, wie sehr die Unterstützung für die Ukraine hier in Washington an einem seidenen Faden hängt." Gibt der Westen also auf?
Die Ukraine legt ihre Kriegsziele allein fest, zumindest offiziell
Die offizielle Position des Westens ist: Die Ukraine legt ihre Kriegsziele allein fest und ist die Einzige, die sagen kann, wann und unter welchen Bedingungen sie mit Russland verhandeln möchte, wenn überhaupt. Laut Professor Mangott ist es inoffiziell jedoch anders: "Der Westen entscheidet mit der Lieferung oder Nichtlieferung von Waffen darüber, wozu er die ukrainische Armee befähigt." Auch Fix sagt, dass der Westen "natürlich massiven Einfluss" habe.
Ein Beispiel sind die versprochenen eine Million Artilleriegranaten seitens der EU für die Ukraine. Tatsächlich können wohl nur 300.000 bis Anfang 2024 geliefert werden. Russland hingegen hat bereits eine Million Artilleriegranaten bekommen – von Nordkorea. Das hat der südkoreanische Geheimdienst herausgefunden.
Europa: Waffenproduktion versäumt
Um eine Million Artilleriegranaten liefern zu können, hat Nordkorea seine Produktionskapazitäten erhöht und mehr Arbeiter eingesetzt. Also genau das gemacht, was Sicherheitsexpertinnen und -experten seit über einem Jahr vom Westen fordern. Der Grund sei vor allem die Tatsache, dass der Westen sich noch nicht darauf eingestellt hat, dass dieser Krieg länger dauern wird, analysiert Fix.
Bis die Produktionskapazitäten in Europa entsprechend erweitert sind, könnten noch Jahre vergehen, zeigt auch eine Recherche der Washington Post.
Zwingt der Westen die Ukraine über Umwege an den Verhandlungstisch?
Derweil gibt es Berichte über mögliche Absprachen zwischen den USA und Deutschland: Die Regierung in Kiew soll über Qualität und Quantität der Waffenlieferungen zur Verhandlungsbereitschaft mit Putin bewegt werden.
Mangott hält dies für "durchaus möglich" und führt den Streit um das Taurus-Waffensystem an, das Deutschland nicht liefert, und die begrenzte Menge an F-16-Kampfflugzeugen.
Im Video: Gibt der Westen auf? Possoch klärt!
Westliche Staaten "nicht bereit, Krieg jahrelang mitzutragen"?
Einige westliche Staaten wollten der Ukraine signalisieren: "Wir sind nicht bereit, diesen Krieg jahrelang mitzutragen, zu finanzieren, militärisch auszurüsten. Und wir wollen indirekt der ukrainischen Führung auch signalisieren, dass sie nicht auf das Maximalziel, einen militärischen Sieg in diesem Krieg, setzen kann", so der Professor für internationale Beziehungen Mangott.
Liana Fix hält dies für nicht von langer Hand geplant: "Die Idee war von Anfang an, dass man Russland so unter Druck setzt, dass es bereit ist zu verhandeln. Das kann man kritisieren, dass man nicht von Anfang an auf einen kompletten Sieg gesetzt hat, aber das war immer relativ transparent und relativ klar."
Was wäre, wenn Russland diesen Krieg gewinnt?
Was wäre aber, wenn Russland den Ukraine-Krieg gewinnt, also wenn Russland im Rahmen von Verhandlungen oder als Resultat der militärischen Realitäten die gegenwärtig besetzten Teile des Territoriums der Ukraine faktisch dauerhaft zugeschlagen bekommt? Für Mangott wäre dies ganz klar eine "Belohnung des Aggressors".
Würde dies tatsächlich die Welt, wie wir sie kennen, verändern – wie es etwa die beiden Ukraine-Krieg-Experten Nico Lange und Carlo Masala jüngst in der Wochenzeitung DIE ZEIT [externer Link, möglicherweise Bezahl-Inhalt] schreiben, weil niemand in Europa mehr sicher wäre? "Ambitionen sind das eine, Fähigkeiten das andere", sagt Mangott, "Russland hat schlichtweg nicht die Fähigkeiten, ein Nato-Land anzugreifen, es würde diesen Krieg konventionell sofort verlieren".
Sollte die Ukraine aber Territorien an Russland abtreten, dann würde nach Ansicht von Liana Fix Russland "früher oder später wieder den Versuch unternehmen, die komplette Ukraine unter seine Kontrolle zu bekommen. Und es wird sich auch darin bestärkt fühlen, die Nato und die Nato-Mitglieder im Westen zu provozieren."
Dies sei vor allem dann der Fall, wenn ein neuerlicher US-Präsident Donald Trump 2024 die Glaubwürdigkeit der Nato infrage stellen würde, wenn er nicht gar versuchen würde, ganz aus der Nato auszutreten.
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