"Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie auch." Dieser Satz des Bundeskanzlers war in den letzten Tagen fast in Vergessenheit geraten. Olaf Scholz schien im Atomstreit abgetaucht. Während Grüne und FDP ihre Position in punkto Atomlaufzeit-Verlängerung eingenommen hatten und sich außerstande sahen, davon abzurücken, hörte man von der SPD in dieser Frage eher wenig.
Die FDP wollte alle drei noch verbliebenen deutschen Atomkraftwerke, Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland mindestens noch bis 2024 laufen lassen. Die Grünen hingegen hatten gerade erst auf ihrem Bundesparteitag beschlossen, lediglich Isar 2 und Neckarwestheim 2 über den 31. Dezember hinaus am Netz zu lassen – und zwar höchstens bis zum 15. April 2023.
- Zum Artikel: "So reagiert die Politik auf Thunbergs Aussage zur AKW-Debatte"
Macht Scholz den Schröder?
Die Fronten zwischen Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) waren derart verhärtet, dass der Kanzler mit seiner bisherigen Linie der respektvollen Moderation nicht voran kam. Letztes Mittel aus dem Kanzleramt: der Brief, der den zuständigen Ministerinnen und Ministern mitteilte, der Kanzler habe entsprechend Paragraf 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung eine Entscheidung getroffen.
💡 § 1 Geschäftsordnung der Bundesregierung
(nach Art. 65 GG)
- Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Diese sind für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen. In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen.
- Der Bundeskanzler hat das Recht und die Pflicht, auf die Durchführung der Richtlinien zu achten.
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht's zur Anmeldung!
Der Kanzler machte also von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch. Schwer vorstellbar allerdings, dass er den Brief ohne Absprache mit den zuständigen Ministern einfach losschickte. Anders als Gerhard Schröder, sein SPD-Vorgänger im Kanzleramt, legt Olaf Scholz Wert auf eine Verständigung auf Augenhöhe. Ein Koch-Kellner-Verständnis von Politik, wie es Schröder in seinen Zeiten der Rot-Grünen-Koalition zelebrierte, ist Scholz fremd. Dass er nun auf diesen Brief zurückgriff, um die Minister zur Ordnung zu rufen, ist insofern Scholz-untypisch und zeigt den Ernst der Lage.
Funfact: Als sich Olaf Scholz am 11. August dieses Jahres den Fragen der Hauptstadtpresse stellte, antwortete er auf die Frage nach der Richtlinienkompetenz: "Es ist gut, dass ich sie habe. Aber natürlich nicht in der Form, dass ich jemandem einen Brief schreibe: 'Bitte, Herr Minister, machen Sie das Folgende', sondern es ist meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Regierung die wichtigen Entscheidungen trifft, die uns in die Lage versetzen, auf diese Krise zu reagieren."
Kehrt jetzt Ruhe ein in der Ampelkoalition?
Nun steht also in dem Brief des Kanzlers an seine Minister, dass Isar 2 und Neckarwestheim 2 sowie das AKW Emsland längstens bis zum 15. April 2023 in den Leistungsbetrieb gehen werden. Vor allem für die Grünen ist das Wörtchen "längstens" dabei von großer Bedeutung. Sie interpretieren: Danach ist auch wirklich Schluss. Einen "Ausstieg vom (Atom-)Ausstieg", wie einige Grüne befürchteten, werde es nicht geben. Grünen-Chefin Ricarda Lang stellte noch einmal klar: "Es werden keine neuen Brennstäbe besorgt."
Die FDP hingegen feiert sich für den Weiterbetrieb des AKW Emsland, "diese energiepolitische Entwicklung wäre ohne die Argumente der Liberalen nicht erreicht worden", steht in einem Schreiben der FDP-Fraktion. FDP-Chef Lindner sieht sich als Garant für die Energiesicherheit der deutschen Unternehmen.
Und der Kanzler? Olaf Scholz hat Führung geliefert, um die sowohl Grüne als auch FDP in den vergangenen Tagen fast schon gebettelt hatten. Wenn auch mit einer gewissen Verzögerung.
"Am 15. April ist mit der Atomkraft als Energieerzeugungsquelle in Deutschland Schluss." Bundeskanzler Olaf Scholz am 18.10.2022 in Berlin
Damit dürfte nun zumindest in der nächsten Zeit Ruhe einkehren und die zuletzt wild blinkende Ampel in einen Normalbetrieb schalten. Es sei denn, die Ampelspitzen schaffen es nicht, sich darauf zu einigen, wie die gesetzliche Grundlage für den Leistungsbetrieb auszusehen hat, sprich: was ein "Leistungsbetrieb" überhaupt bedeutet. Aber auch hier hat der Kanzler bereits die Linie vorgegeben und dem Reservebetrieb eine Absage erteilt: "Wir schicken nicht irgendwelche Kraftwerke in eine Reserve."
Olaf Scholz hat viel Pulver verschossen
Für die Ampelkoalition könnte damit der Atomstreit einigermaßen glimpflich über die Bühne gegangen sein. Olaf Scholz hingegen hat mit dem Machtwort seine Bazooka verschossen. Nicht nur sein Fraktionschef Rolf Mützenich (SPD) ist der Meinung, dass man die Richtlinienkompetenz nicht inflationär nutzen sollte. Mützenich ist sich jedoch auch sicher, dass Scholz klug genug ist, das nicht zu tun.
Das ist die Europäische Perspektive bei BR24.