"Querbeet" soll der Käuferkreis sein, der in einer Münchner Buchhandlung zu den Memoiren von Altbundeskanzlerin Angela Merkel greift. Von alten Männern bis zu jungen Frauen wird das Buch gekauft, erklärt Buchhändler Michael Lemling. Eine junge Käuferin sagt: "Sie war die erste Frau, die unsere Bundesrepublik geführt hat. Sie hat doch eine Vorbildfunktion in jeder Generation."
Vielleicht ist die Zielgruppe so "querbeet", wie es Merkels Politik in ihrer 16-jährigen Kanzlerschaft war: weder stark rechts noch links, sondern meist irgendwie in der Mitte. Im Deutschen Theater in Berlin stellt die Ex-Kanzlerin ihre Memoiren vor – in Form eines Interviews, geführt von Journalistin Anne Will. Merkes Verlag verspricht, das Buch biete auf gut 700 Seiten einen "einzigartigen Einblick in das Innere der Macht". Ganz so einzigartig ist der Einblick im Laufe des Abends aber nicht.
Merkel: "Ich bin nicht als Kanzlerin geboren"
Merkel berichtet über ihre Zeit in der DDR. 35 Jahre lebte sie in dem Land, das es heute nicht mehr gibt. Woher sie kommt, wie sie aufgewachsen ist, welchen Einfluss ihre Herkunft auf ihre politische Arbeit hatte – alles ausführlich besprochen im ersten Teil ihres Buches. "Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren", sagt sie. Als Lebensglück bezeichnet sie, den Mauerfall mit 35 Jahren in einem Alter erlebt zu haben, indem noch viel vor ihr lag. 1990 wurde sie Bundestagsabgeordnete. Ob damals, später oder heute: "Ich habe meine Aufgaben ernst genommen", betont sie. Es dauerte nicht lange, bis sie als Ministerin im Bundeskabinett saß – dieses Kabinett, das sie bisher nur aus dem Fernsehen, aus der Tageschau kannte.
Merkels Weg zur Macht
"Ich hatte das große Glück, dass Wolfgang Schäuble mich gefragt hatte, ob ich Generalsekretärin der CDU werden will", so Merkel. Sie wollte gestalten und erklärt auch, ihre Sicht zur Parteispendenaffäre von Ex-Kanzler Helmut Kohl, ihren Weg zur Parteivorsitzenden und wie sie sich dagegen wehrte, von Parteikollegen "weggeschubst" zu werden – vor allem, als es um ihre Kanzlerkandidatur ging. Merkel: "Man braucht diesen unbedingten Willen zur Macht." Auf die Frage, ob sie es ihrem einstigen Rivalen und heutigen CDU-Chef Friedrich Merz gönne, dass er vielleicht bald Kanzler werde, sagt sie: "Friedrich Merz hat ihn auch (den unbedingten Willen zur Macht), und deshalb gönne ich es ihm."
In der aktuellen Debatte über Zurückweisungen von Asylsuchenden an den deutschen Grenzen, bekräftigt die frühere Kanzlerin, dass sie hierzu eine ganz andere Position als Merz hat: "Für mich war es wichtig, dass wir das nicht tun. Ich halte das auch für den falschen Weg. Aber es ist nun mal so, dass er diese Meinung hat, ja."
Merkel über Fehler, Migration und Schuldenbremse
Merkel räumt Fehler ein. In ihrer Amtszeit seien nicht alle Probleme ausreichend angegangen worden. "Ich habe das Land nicht in einem Tipptopp-Zustand hinterlassen", sagt sie. Konkret meint sie: "Wir tun zu wenig beim Klimaschutz." Sie gibt auch Versäumnisse bei der Digitalisierung und Infrastruktur wie der Bahn zu. Es sei auch zu wenig in Verteidigung investiert worden. Doch allzu lange hält sie sich damit nicht auf und entschuldigt sich recht schnell mit: "Es gab viele Probleme, viele Krisen in meiner Zeit." Mehr Fehleranalyse kommt von ihr nicht.
Beim Thema Migration verteidigt Merkel ihre Politik. Sie hält Abkommen mit Herkunftsländern für den richtigen Weg. Das versuche Kanzler Scholz gerade. "Das ist ein dickes Brett", so Merkel. Auch die Kontrolle der EU-Außengrenzen seien wichtig. Sie warnt jedoch vor langfristigen Grenzkontrollen innerhalb der EU: "Wenn jeder an seiner Grenze kontrolliert, ist das ein Rückschritt in Europa." Dann werde die Freizügigkeit eingeschränkt. "Das möchte ich nicht", unterstreicht die Altkanzlerin.
Merkel spricht sich für eine Reform der Schuldenbremse aus – entgegen der offiziellen Position von CDU und CSU. Vor dem Hintergrund des Kriegs in der Ukraine, des Klimawandels und weiterer Herausforderungen erklärt sie: "In einer solchen Situation sage ich, dass wir mit den Investitionen, die wir uns im Rahmen der Schuldenbremse leisten können, nicht auskommen werden." Die aktuelle Lage sei ungewohnt ernst, ernster als in ihrer Zeit als Kanzlerin. Deshalb plädiere sie für die Reform, aber: "Für Investitionen, nicht für anderes".
Merkel: Man darf Putin nicht unterschätzen
Über Russlands Präsident Putin sagt Merkel: "Er hat seine Kräfte vollkommen überschätzt." Sein Kriegsplan gegen die Ukraine ging nicht auf. Dies sei auch "dem großen Mut" des ukrainischen Präsidenten Selenskyj zu verdanken, der nach Kriegsbeginn das Land nicht verlassen, sondern sich Putin entgegengestellt habe.
Merkel: "Deutschland ist nicht in Kriegsgefahr"
Auf die Frage, ob es momentan nicht danach aussehe, dass die Ukraine den Krieg verliere, sagt sie: "Das denke ich nicht und das hoffe ich nicht. Russland darf diesen Krieg nicht gewinnen." Man dürfte Putin aber auch nicht unterschätzen. Merkel sieht Deutschland aber nicht in "Kriegsgefahr". Es brauche jedoch schnell eine glaubwürdige Abschreckung – eine Abschreckung innerhalb der NATO.
Die operative Politik hat sie hinter sich gelassen. "Es war genug", bilanziert die Ex-Kanzlerin. Aber: "Die Bürgerin Angela Merkel bleibt ein politischer Mensch."
Zurück in der Münchner Buchhandlung sagt eine junge Käuferin von Merkels Memoiren: "Ich möchte verstehen, wie Merkel ihre Entscheidungen der letzten Jahrzehnte begründet hat." Das Buch dürfte diesen Wunsch nur in Teilen erfüllen.
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