"Sie kennen mich. Und Sie wissen, was ich anpacken möchte und wie ich das mache", so lautete das Schlusswort von Angela Merkel beim TV-Duell vor der Bundestagswahl 2013. Dieses Zitat eröffnet die erste der fünf Folgen von "Schicksalsjahre einer Kanzlerin" in der ARD-Mediathek.
Nehmen Sie ein Gänseblümchen in die Hand und zupfen sie dessen Blütenblätter: Wir kennen sie. Wir kennen sie nicht. Wir kennen sie. Wir … Nach diesem dramaturgischen Prinzip funktioniert die kluge Doku-Serie von Regisseur und Autor Tim Ewers, bis am Ende klar ist: Beides stimmt. Man kennt sie. Man kennt sie nicht. "Sie hat uns sechzehn Jahre regiert", sagt Ewers, "und trotzdem kriegt man sie nicht zu greifen."
Integer statt intrigant
"Sie kennen mich", lautete also 2013 ihr Wahlkampfmotto. Kennen? Oberflächlich ja, durchaus. Aber ansonsten war das eine psychologisch kluge, wahltaktische Behauptung. Sie brachte Erfolg. Man wusste, was man hatte an ihr. Keine Intrigantin, sondern einen ziemlich integren Menschen. Den damaligen SPD-Herausforderer Peer Steinbrück kennt inzwischen kaum einer mehr.
"Wir schaffen das" - dieser Satz von Angela Merkel ging während der Flüchtlingskrise 2015 um die Welt. Sie klang oft resolut, diese Kanzlerin, trotzdem wusste man nicht, wofür sie wirklich stand. Sie agierte klug, reagierte schlau, auch vorausschauend, Kehrtwenden wie die nach Fukushima 2011 eingeschlossen. Damals setzte Merkel die erst kurz zuvor beschlossene Verlängerung der Laufzeiten deutscher Kernkraftwerke aus.
Staatsfraulich, so trat sie auf. Eine Kanzlerin, deren Erfolgsgeheimnis lange darin bestand, unterschätzt zu werden, die uns dann, das Land, ihre Bürgerinnen und Bürger, scheinbar verantwortungsvoll durch Krisen steuerte, oder vielmehr die Krisen geschickt verzögerte, wie es in der ersten Folge die Publizistin Marina Weisband analysiert.
DDR-Mädchenrockband oder Mutti der Deutschen?
Die fünfteilige ARD-Doku-Serie, die zum 70. Geburtstag der Ex-Kanzlerin produziert wurde, gibt sich durchaus kritisch. Der Titel "Angela Merkel. Schicksalsjahre einer Kanzlerin" klingt aber doch ein wenig seltsam. Jetzt wird sie auch noch mit Sissi verglichen! Das braucht es nicht. In späten Jahren sah sie mit ihren Rautenhänden aus wie eine resolute Mutti Deutschland, in jungen Jahren, auch das zeigt der Film, wie das Mitglied einer DDR-Mädchenrockband, das durch den Mauerfall plötzlich eine andere Welt betrat: "Auf der Westberliner Seite sind wir einfach in irgendeine Wohnung gegangen und wollten alle telefonieren. Ich wollte meine Tante anrufen, nachdem ich mein erstes West-Bier getrunken hatte, ich weiß noch, so ein Büchsenbier."
Gespräche mit Thomas de Maizière, Annegret Kramp-Karrenbauer Evelyn Roll
Merkel selbst lehnte Interviews für die Doku-Serie übrigens ab. Regisseur Tim Ewers hat jedoch akribisch aus Nachrichten, Interviews und Bundestagsmitschnitten die Passagen zusammengetragen, in denen sie persönlich wurde. Die Schlüsselmomente ihrer Karriere und Kanzlerschaft sind zu sehen – inklusive Zapfenstreich, für den sie sich unter anderem den kultigen DDR-Song "Du hast den Farbfilm vergessen" von Nina Hagen gewünscht hat. Außerdem kommen Beobachterinnen und Weggefährten wie Thomas de Maizière, Annegret Kramp-Karrenbauer oder die Merkel-Biografin Evelyn Roll zu Wort.
Eine einzigartige Karriere wird hier im Schnellverfahren noch einmal vor Augen geführt – bisweilen wünschte man sich weniger begleitende Musik und auch mal länger stehende Szenen, die ein bisschen Ruhe reinbringen. Klar wird im Rückblick: Angela Merkel war eine überforderte Kanzlerin inmitten all der unvorhersehbaren Bedrängnisse: Finanz-, Euro-, Terror- und Migrationskrisen. Klimakrise und Russlands gewaltvolle Expansionspolitik noch dazu. Ihre Botschaft bleibt: "Wir schaffen das!"
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