Das Londoner Spitzentreffen von Politikerinnen und Politikern aus Europa und Kanada vom Sonntag war schon länger geplant gewesen. Nach dem Eklat im Weißen Haus am Freitag wurde ein Krisengipfel daraus. Die anwesenden Staats- und Regierungschefs und –chefinnen und Minister wollen den Gesprächskanal nach Washington offen halten und sie suchen gleichzeitig mit Nachdruck nach Möglichkeiten, schnell Europas Verteidigungsausgaben zu steigern. Der britische Premier Keith Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron haben eine befristete Waffenruhe für die Ukraine vorgeschlagen.
Verschiedene Wege zur Aufrüstung
Um Europas Aufrüstung zu bezahlen, müssten zunächst die Mitgliedsstaaten ihre nationalen Haushalte entsprechend umbauen – etwa Subventionen abbauen, damit zusätzliche Mittel für Verteidigung freiwerden. Verteidigung ist nationale Angelegenheit, über die jede Regierung selbst bestimmt. Eine reine Umschichtung von Ausgaben innerhalb eines Landes hat den Vorteil, dass es dadurch nicht in Konflikt mit den EU-Schuldenregeln kommt. Der Nachteil ist, dass dadurch Mittel für andere staatliche Aufgaben wegfallen.
Auf EU-Ebene könnte Geld für Verteidigung freiwerden, indem die Gemeinschaft vorhandene Fördertöpfe wie den Kohäsionsfonds, einer der fünf Europäischen Struktur- und Investitionsfonds, oder das Forschungsprogramm Horizon neu ausrichtet. Dadurch könnte die EU schnell ihre Infrastruktur voranbringen und Verkehrswege oder Brücken für die Verlegung von Panzern oder anderem militärischen Gerät umbauen. Rüstungsgüter oder Munition aus dem EU-Haushalt zu finanzieren, ist allerdings nicht erlaubt.
Ausweichklauseln mit Hindernis
Obwohl spätestens seit Beginn des russischen Angriffskrieges klar ist, dass die Mitgliedsstaaten ihre Verteidigungsausgaben erhöhen müssen, haben immer noch nicht alle das Mindestziel erreicht, zwei Prozent des jeweiligen Brutto-Inlandsproduktes dafür aufzuwenden – darunter Schwergewichte wie Italien und Spanien. Um ihnen das Schuldenmachen fürs Aufrüsten zu erleichtern, könnten Ausweichklauseln im EU-Stabilitäts- und Wachstumspakt genutzt werden ("EU-Schuldenregeln").
Eine allgemeine Ausweichklausel kam während der Corona-Pandemie zur Anwendung; dabei wurde der Pakt für mehrere Jahre ausgesetzt. Wahrscheinlicher ist, dass eine nationale Ausweichklausel genutzt wird, die einzelnen EU-Ländern höhere Ausgaben erlaubt, wenn es außergewöhnliche Umstände gibt, die sich der Kontrolle des Mitgliedstaates entziehen und die erhebliche Auswirkungen auf die öffentlichen Finanzen haben. Die Umstände wären in diesem Fall der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Deutschland würde die Ausweichklausel nur bedingt helfen, weil die Schuldenbremse der Bundesregierung zusätzliche Beschränkungen auferlegt. In Berlin wird deshalb über milliardenschwere Sondervermögen für Verteidigung und eine Reform der Schuldenbremse diskutiert, um den finanziellen Spielraum zu erweitern.
Gemeinschaftsschulden sind umstritten
Eine weitere mögliche Geldquelle wäre die Europäische Investitionsbank (EIB). Die EU hat schon im vergangenen Jahr Vorgaben geändert, um die Rüstungsproduktion anzukurbeln. So hat die EIB mehr Möglichkeiten für Investitionen in sogenannte Dual-Use-Güter - also Produkte, die für zivile und militärische Zwecke verwendet werden können, wie Hubschrauber oder Drohnen. Dass das EIB-Mandat geändert wird, um die Beschränkung ganz aufzuheben, halten Experten aber für unwahrscheinlich.
Eine viel diskutierte und heftig umstrittene Möglichkeit, mehr Geld für Verteidigung bereitzustellen, wären EU-Verteidigungsbonds, also gemeinsame Anleihen, für die die Mitgliedsstaaten haften müssten, allen voran Deutschland. Als Vorbild gilt der Fonds von 800 Millionen Euro, den die EU zur Abmilderung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie bereitgestellt hat. Polen hat solche Verteidigungsbonds ins Gespräch gebracht. Die amtierende Bundesregierung lehnt sie ab.
Mit Washington im Gespräch bleiben
Fachleute halten es für wahrscheinlich, dass die EU mit einer Mischung aus verschiedenen Instrumenten versuchen wird, ihre Rüstungsausgaben zu steigern. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen will den Mitgliedsstaaten demnächst ihre Pläne vorstellen, die beim Sondergipfel am Donnerstag besprochen werden.
Wie auch immer sie aussehen - es wird Zeit brauchen, sie umzusetzen. Deshalb bleibt es fraglich, ob Europa schnell in der Lage wäre, die Lücke zu füllen, falls sich die USA aus der Ukraine zurückziehen sollten. Wahrscheinlich auch deshalb haben beim Krisengipfel in London mehrere Regierungschefs und –chefinnen die Notwendigkeit betont, Brücken nach Washington zu bauen, um die entstandene Entfremdung zwischen den Vereinigten Staaten und ihren europäischen Verbündeten abzumildern. Dabei könnte Europas das Signal senden, dass es inzwischen tatsächlich mit Hochdruck daran arbeitet, mehr Verantwortung für seine konventionelle Verteidigung zu übernehmen.
Zum Hören: Analyse - Der Eklat in Washington
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (l.) mit dem US-Präsidenten Donald Trump im Weißen Haus
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