Gleich die ersten 30 Minuten des zweistündigen Interviews dürften interessierte Zuschauer verprellt haben: Putin erging sich in einem endlosen Monolog über die Gründungsmythen Russlands und der Ukraine. Er lamentierte über den Zerfall der Sowjetunion und die Expansion der Nato. Das war Geschichtsrevisionismus in Oberlehrer-Manier. Wenn Carlson ihn unterbrechen wollte, erklärte Putin herablassend: "Dazu komme ich noch. Es mag langweilig sein, aber es erklärt vieles."
Unbequeme Unterbrechungen und Überforderung
Carlson schien an vielen Stellen von Putins ausführlichen Antworten und seinen Verschwörungsgeschichten überfordert. Und wenn der 54-Jährige nachfragte, dann eher oberflächlich ("Kann ein Staatsoberhaupt überhaupt ein wahrer Christ sein?").
Bohrende, kritische Fragen vermied der US-Journalist. Er fragte nicht nach den gezielten russischen Angriffen auf die ukrainische Zivilbevölkerung, nach der Zwangsdeportation tausender ukrainischer Kinder nach Russland oder nach der Inhaftierung russischer Bürger, die sich kritisch über Putin geäußert hatten und dafür zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
Ausweichende Antworten und mangelnde Kritik
Stattdessen räumte er Putin ein breites Forum ein: Der Staatschef warnte die Europäer und die USA davor, eigene Truppen in die Ukraine zu entsenden. Er schlug vor, die USA sollten mit Russland verhandeln, um eine Eskalation zu vermeiden. Die ukrainische Regierung schloss er aus.
Kritik an den USA und Ablenkung von eigenen Problemen
Er fragte sich, warum die USA sich nicht endlich um ihre eigenen Probleme kümmerten: "Brauchen die Vereinigten Staaten das? Und wozu? Tausende von Kilometern von eurem Staatsgebiet entfernt. Habt ihr nichts Besseres zu tun? Ihr habt Probleme an euren Grenzen. Probleme mit der Einwanderung, Probleme mit der Staatsverschuldung. Mehr als 33 Billionen Dollar. Habt ihr denn nichts Besseres zu tun? Solltet ihr in der Ukraine kämpfen? Wäre es nicht besser, mit Russland zu verhandeln? Ein Abkommen zu schließen?"
Ein seltener Moment der Herausforderung
Nur einmal wagte sich Carlson aus der Deckung: Er appellierte an Putins Anstand, den inhaftierten Korrespondenten des Wall Street Journal, Evan Gerschkowitsch, freizulassen, und betonte, der Journalist sei kein Spion. Putins Antwort war unverbindlich und deutete an, dass sich die Gesten des guten Willens von russischer Seite erschöpft hätten. Er räumte jedoch ein, dass der Dialog über den Fall fortgesetzt werde. Als Bedingung für die Freilassung Gerschkowitschs schlug Putin einen möglichen Gefangenenaustausch mit dem in Deutschland verurteilten Russen Wadim Krasikow vor.
Strategische Ziele und die MAGA-Bewegung
Für Beobachter in den USA war klar, dass Putin mit dem Interview die MAGA-Anhänger innerhalb der Republikanischen Partei von Donald Trump erreichen wollte. Putin hofft wohl nicht nur auf eine Wiederwahl Trumps, sondern auch darauf, dass die Republikaner die US-Militärhilfe für die Ukraine weiter blockieren.
Carlson räumte in einem Videoclip nach dem Gespräch ein, dass es schwierig sei, Putin zu interviewen, da der russische Staatschef dazu neige, direkten Antworten auszuweichen und Gespräche zu dominieren.
Carlsons (misslungenes) mediales Comeback
Für den ehemaligen Star von Fox News ist das Interview auch ein strategischer Schachzug, um nach seinem Rauswurf bei dem Sender wieder mediale Relevanz zu erlangen. Indem er sich ein Exklusivinterview mit Putin sicherte und es auf dem Kurznachrichtendienst X von Tesla-Chef Elon Musk sowie auf seiner eigenen Website verbreitete, versucht Carlson, trotz des umstrittenen Endes seiner Tätigkeit bei Fox, seinen Einfluss auf den politischen Diskurs in den USA aufrechtzuerhalten.
Es geht auch anders: Armin Wolf
Die Aufmerksamkeit war Carlson zwar sicher, doch das Interview selbst kann man getrost als "ziemlich misslungen" bezeichnen. Dass es übrigens auch anders geht, zeigte 2018 auf eindrucksvolle Weise der ORF-Journalist Armin Wolf, dem es damals gelungen war, Putin effektiv herauszufordern.
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