Die Explosionen an den Ostsee-Gasröhren Nord Stream 1 und 2 können ein neues, gefährliches Kapitel in der Auseinandersetzung zwischen Russland und dem Westen aufschlagen. Hinweise auf eine gezielte Zerstörung werden dichter - ein zeitgleiches Unglück an mehreren Stellen erscheint unwahrscheinlich. Fachleute in Geheimdiensten, Militär und Industrie tragen ihre Erkenntnisse nun zu einem Bild zusammen.
Wie kann so ein Anschlag durchgeführt werden?
Sprengen unter Wasser ist kein Hexenwerk, vor allem wenn es - wie in der Ostsee - nicht um große Tiefen geht. Militärtaucher aller Nationen sind darin geübt. So werden Seeminen in der Regel unter Wasser kontrolliert gesprengt, nicht entschärft. Auch zivile Sprengschulen bieten eine solche Ausbildung an, ebenso Zivilschutzbehörden wie im Falle Deutschlands das Technische Hilfswerk (THW).
Der Bundeswehr-Kommandeur Michael Giss verweist darauf, dass möglicherweise auch Unterwasserdrohnen oder Kleinst-U-Boote für die Sprengung zum Einsatz gekommen seien. Zwar sei ein solcher Anschlag auch mit Tauchern denkbar, "ich halte es aber persönlich für sehr, sehr aufwendig und denke, dass man sich da anderer technischer Mittel bedient hat", erläutert Giss bei tagesschau.de.
Prinzipiell ist aber bei einer Pipeline mindestens noch ein weiteres Verfahren zur Zerstörung denkbar, sagen Technikexperten. Die Röhre wird mit einem "Molch" gewartet, einem ferngesteuerten Reinigungsroboter, der mit Sprengstoff bestückt werden kann, sofern Täter Zugang zu dem System haben.
Gibt es Spuren zu Tätern?
Die Ostsee gehört zu den am besten überwachten Seegebieten überhaupt - besonders seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Alle Anrainer beobachten den Schiffs- und Flugverkehr mit Sensoren, und es gibt dabei auf deutscher Seite hochentwickelte Fähigkeiten. So werden Bewegungen von Fahrzeugen im Wasser verfolgt, indem die akustische Signatur aufgenommen und mit einer Datenbank abgeglichen wird.
Die Marine erstellt aus all diesen Informationen ein "Unterwasserlagebild", das allerdings bei der Beobachtung gegnerischer U-Boote auch an Grenzen stößt. Zur Beweislage gehört auch das Schadensbild an der Pipeline. Weil das austretende Gas aber zunächst erheblich Blasen schlägt, ist eine genauere Analyse erst später möglich. Dänemarks Verteidigungsministerium geht von ein bis zwei Wochen aus, bis die Lecks in etwa 80 Metern Tiefe untersucht werden können.
Wer hätte was von diesem Sabotageakt?
Wem nutzen die Lecks? Das ist eine der Hauptfragen bei der Suche nach den Tätern. Allerdings gibt es hier keine einfache Antwort. Wer eine Urheberschaft Russlands annimmt, hält es damit für möglich, dass Moskau die eigene Infrastruktur dauerhaft beschädigt und sich auch selbst die Möglichkeit nimmt, die Gasversorgung als Druckmittel gezielt an- und auszuschalten. Eine weitere Frage ist, wer die technischen Fähigkeiten für einen derartigen Sabotageakt mitbringt.
Bundeswehr-Kommandeur Giss verweist darauf, dass die russische Marine über Unterwasserdrohnen verfügt. Das britische Verteidigungsministerium geht inzwischen davon aus, dass Moskau die Pipelines mit solchen Geräten gezielt gesprengt hat, wie die "Times" berichtet. Auch aus der Ukraine gibt es Vorwürfe, Russland habe die Pipelines gezielt sabotiert, um die Energiekrise in Europa zu verschärfen und Panik vor dem Winter auszulösen. Aus Moskau heißt es: "Es ist ziemlich vorhersehbar und vorhersehbar dumm und absurd, solche Annahmen zu treffen", so Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Aus der Koalition in Berlin war zu hören, es sei angesichts der angespannten Lage wichtig, zu möglichen Urhebern keine halbgaren Informationen zu veröffentlichen, sondern auf belastbare Ergebnisse zu warten. Allgemein gilt ein "staatlicher Akteur" als wahrscheinlich, falls es sich um Sabotage handelt - wovon EU und Nato ausgehen.
Wer ist in Deutschland für den Schutz der Infrastruktur zuständig?
"Die Bundespolizei ist mit ihren Schiffen 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche auf Nord- und Ostsee unterwegs", sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). In den Küstenbereichen und an Land seien die Länder für die Gefahrenabwehr verantwortlich - "im Maritimen Sicherheitszentrum in Cuxhaven laufen die Fäden zusammen".
Die CIA hatte zwar im Juni vor einem möglichen Angriff auf die Gas-Pipelines gewarnt. Sehr konkret und zielgerichtet war diese Warnung aber wohl nicht. Jedenfalls löste sie keine größeren Maßnahmen aus. Dass die Energie-Infrastruktur generell Ziel möglicher Sabotage durch in- und ausländische Akteure sein könnte, haben die Sicherheitsbehörden ohnehin schon länger im Blick. Die Verfassungsschützer von Bund und Ländern haben seit Beginn des russischen Angriffs mehrfach Unternehmen der kritischen Infrastruktur vor möglicher Sabotage und Cyberangriffen gewarnt. Im August hatte Faeser nach einem Besuch bei der Bundespolizei See gesagt: "Wir müssen auf Attacken auf Gas-Terminals und andere kritische Infrastruktur gerüstet sein."
Welche Schritte zum Schutz sind geplant?
"Wir sehen erneut, wie stark äußere und innere Sicherheit zusammenhängen", sagt Faeser. Man müsse sich auf Szenarien einstellen, "die bis vor kurzem kaum denkbar waren".
In der Koalition finden manche Innen-Experten, dass das Benennen von Problemen hier nicht ausreicht. Im Koalitionsvertrag hatten SPD, Grüne und FDP formuliert: "Den physischen Schutz kritischer Infrastrukturen bündeln wir in einem KRITIS-Dachgesetz. Die Konzeption 'Zivile Verteidigung' richten wir strategisch neu aus."
Verteidigungsministerin Christine Lambrecht erklärt am Mittwoch: "Der mutmaßliche Sabotageakt an den Ostsee-Pipelines führt uns erneut vor Augen, dass wir auf kritische Infrastruktur angewiesen sind - auch unter Wasser. Die Umstände dieses beunruhigenden Ereignisses müssen nun schnell geklärt und die Verantwortlichen identifiziert werden." Sie habe vereinbart, Informationen mit Partnerländern zu teilen. Die Marine werde sich bei der Aufklärung einbringen.
Ist die Sabotage der Pipelines ein kriegerischer Akt?
Dänemark und Schweden betonen, dass sie nicht angegriffen worden seien. Zu den Vorfällen sei es in internationalen Gewässern in den ausschließlichen Wirtschaftszonen beider Staaten vor der Ostsee-Insel Bornholm gekommen.
Die Frage eines Angriffs auf schwedischem oder dänischem Territorium stellt sich aus Sicht beider Regierungen also nicht. Deutschland ist im diesem Sinne - ungeachtet der langfristigen Folgen - noch weniger betroffen.
Ist eine Reparatur möglich?
Der Betreiber der Pipeline Nord Stream 1 schließt eine Reparatur des beschädigten Doppelstrangs zumindest derzeit nicht aus. Zurzeit sei allerdings grundsätzlich nichts auszuschließen, sagt ein Sprecher der Nord Stream AG. Für eine Beurteilung müssten zunächst die Schäden begutachtet werden. Bisher gebe es keine Bilder. Erst nach einer Begutachtung könne man ein etwaiges Vorgehen festlegen. Es gebe Erfahrungen und Anbieter für entsprechende Arbeiten. Zu möglichen Kosten und wer diese übernehme, wollte der Sprecher wegen der fehlenden Informationen über die Schäden keine Angaben machen.
Zunächst müssten unbemannte Unterwasserfahrzeugen, die von Schiffen aus gesteuert werden, die Schäden erkunden. Man wolle die Schäden so schnell wie möglich inspizieren, das setze aber voraus, dass die Behörden die verhängten Sperrzonen aufhöben. Für die Nord Stream 2 AG dürften etwaige Erkundungen oder gar Reparaturen auch deshalb schwierig werden, weil das Unternehmen seit Anfang des Jahres unter US-Sanktionen steht, die Geschäfte mit dem Unternehmen mit Sitz in der Schweiz unmöglich machen.
Wie viel Gas war zum Zeitpunkt der Beschädigung in den Leitungen?
Zum Zeitpunkt des plötzlichen Druckabfalls in einer der beiden Nord-Stream-2-Leitungen und beiden Nord-Stream-1-Leitungen befanden sich in den Röhren insgesamt Hunderte Millionen Kubikmeter Gas. Allein in der betroffenen Röhre von Nord Stream 2 waren es laut Betreiber über 170 Millionen Kubikmeter. Nord Stream 1 und 2 sind jeweils Doppelstränge mit ähnlicher Kapazität.
Tritt das komplette Gas der betroffenen Leitungen nun aus?
Ein Teil des Gases dürfte zunächst in den Leitungen bleiben, sagt Nord-Stream-2-Sprecher Ulrich Lissek. Das sei der Fall, wenn Wasser- und Gasdruck ein gewisses Gleichgewicht erreichten. Zudem spiele das Gefälle, über das die Leitungen verlegt seien, eine Rolle. Gas noch an den Anlandestationen abzulassen, sei seines Wissens nach nicht möglich, weil das Gas schneller aus dem Leck austrete. Man könne Gas auch nicht schlagartig ablassen, weil durch die plötzliche Reduzierung des Drucks Kälte entstehe, die technische Anlagen beschädigen könnte. "Das ist alles nicht so trivial."
Drohen Klimaschäden?
Das Umweltbundesamt (UBA) ist nach den Lecks besorgt über freitretendes Methan. Nach Berechnungen der Behörde führen die Schäden zu etwa 7,5 Millionen Tonnen an sogenannten CO2-Äquivalenten. Das entspreche etwa einem Prozent der deutschen Jahres-Gesamtemissionen, teilt das UBA mit. Die Berechnung stütze sich auf geschätzte Informationen zu Füllzustand und Volumen der beiden Pipelines. Zur besseren Vergleichbarkeit werden andere Treibhausgase in CO2-Äquivalente umgerechnet. Maßstab ist ihr jeweiliger Beitrag zur Erderwärmung im Vergleich zu Kohlendioxid. Das UBA geht davon aus, dass durch die Lecks 0,3 Millionen Tonnen Methan in die Atmosphäre gelangen werden.
Die Deutsche Umwelthilfe fordert die Betreiber der Nord Stream-Pipelines und die deutschen Aufsichtsbehörden auf, das verbleibende Gas aus allen Strängen der Ostsee-Pipelines unverzüglich abzupumpen. "Die Lecks sind ein Superemitter-Event von unvorstellbarem Ausmaß", sagt Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner in einer Mitteilung.
Mit Material von dpa.
Europäische Perspektiven
BR24 wählt regelmäßig Inhalte von unseren europäischen öffentlich-rechtlichen Medienpartnern aus und präsentiert diese hier im Rahmen eines Pilotprojekts der Europäischen Rundfunkunion.
- Zum Artikel: "EBU-Projekt Europäische Perspektiven"
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!