Bereits 19-mal hat Russlands Präsident Wladimir Putin seit seinem Amtsantritt am 31. Dezember 1999 seine im Staatsfernsehen übertragenen "Rede zur Lage der Nation" gehalten. Meist geht es darin etwa zwei Stunden lang um die großen politischen Leitlinien für die russische Gesellschaft – die inzwischen eine Gesellschaft im Kriegszustand ist. Entsprechend drohend trat Putin auch in diesem Jahr auf.
Offiziell wendet sich der 71 Jahre alte Staatschef mit seiner Rede zwar an die Föderale Versammlung – das sind die Staatsduma und der Föderationsrat. Doch die eigentlichen Adressaten sind zwei Wochen vor der Präsidentschaftswahl das russische Volk, die Weltöffentlichkeit – und der Westen.
Putin droht mit Atomkrieg
Ohne dessen Namen zu nennen, reagierte Putin auf Überlegungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron zum Einsatz westlicher Bodentruppen in der Ukraine. Sollten Nato-Staaten Soldaten in die Ukraine schicken, wären die Konsequenzen tragisch, so Putin. Russland verfüge über Waffen, die Ziele im westlichen Territorium treffen könnten. "Verstehen sie nicht, dass es die Gefahr eines nuklearen Konflikts gibt?", sagte Putin.
"Alles, was der Westen sich einfallen lässt, womit sie die Welt erschrecken, schafft die reale Gefahr eines Konflikts mit dem Einsatz von Atomwaffen, was die Zerstörung der Zivilisation bedeutet."
"Eurasische Sicherheitsarchitektur"
Eine starke globale Ordnung sei ohne ein starkes Russland nicht möglich, sagte der Präsident weiter. Die USA hätten die Sicherheit in Europa demontiert. Der Westen versuche, Russland in einen Rüstungswettlauf zu ziehen. Putin kritisierte in diesem Zusammenhang die Aufnahme Finnlands und Schwedens in die Nato. Russland sei deshalb gezwungen, seine Streitkräfte an der Westgrenze zu stärken.
Zugleich bot Putin den USA erneut einen Dialog an zur strategischen Sicherheit in der Welt. Er sei bereit, über eine "eurasische Sicherheitsarchitektur" zu sprechen; nähere Angaben, was er sich darunter vorstellt, machte Putin nicht.
Versprechungen für Arme, Kranke und Großfamilien
Für sein heimisches Publikum ging Putin vor der Wahl zudem ausführlich auf die soziale Lage im Land ein. Bei etwa 30 Prozent der Großfamilien sei die finanzielle Lage prekär - bis 2030 solle dieser Anteil auf zwölf Prozent gesenkt werden. Dazu rief Putin ein neues Unterstützungsprogramm für Familien aus.
Für die Modernisierung des Gesundheitswesens sagte Putin eine Billion Rubel (rund 10 Milliarden Euro) zu. Als Maßnahmen zur Stützung der Familien stellte Putin soziale Hypothekenprogramme, höhere Steuerfreibeträge für Kinder und regionale Sozialprogramme vor, die aus dem föderalen Haushalt gestützt werden sollen. Der Mindestlohn solle von 19.000 Rubel (190 Euro) im Monat bis 2030 auf 35.000 Rubel (350 Euro) steigen.
Reden zur Lage der Nation: Zwei Stunden Erfolge, Ankündigungen, Appelle
2022, im ersten Kriegsjahr, hatte Putin seine Großansprache ausfallen lassen; zu gründlich hatten die ukrainischen Landesverteidiger die russischen Truppen zurückgeschlagen.
Putins Rede im Februar 2023 bestand im Wesentlichen aus nationalistischen Appellen und Schuldzuweisungen an die Nato: Rückblickend betrachtet sei Russland von den westlichen Regierungen stets hintergangen worden. Dann kündigte er die Aussetzung des Atom-Abrüstungsvertrags New Start an.
2024 kommt Putin der Frontverlauf zupass: Die russischen Truppen verzeichneten zuletzt taktische Gewinne bei ihrer Invasion und konnten die Einnahme der hart umkämpften Stadt Awdijiwka verkünden, während der Ukraine die Munition ausgeht. Putin lobte die russischen Soldaten, die nun die Oberhand gewonnen hätten, und ließ die Gefallenen mit einem Schweigemoment ehren. Zugleich bekräftigte er sein Narrativ, Russland verteidige in der Ukraine seine Souveränität und Sicherheit und schütze seine Landsleute.
Transnistrien kein Thema
Bemerkenswert an Putins Reden ist immer auch, was der russische Präsident nicht anspricht: in diesem Jahr den Tod von Alexej Nawalny in Sibirien, für den es weiter keine offizielle Todesursache gibt, aber auch die sich zuspitzende Lage in Transnistrien.
Gestern hatten pro-russische Separatisten dort um "Schutz" vor dem "zunehmenden Druck" durch die Republik Moldau gebeten, zu der Transnistrien völkerrechtlich gehört. Russische Nachrichtenagenturen zitierten das Außenministerium mit den Worten, "der Schutz der Interessen der Bewohner Transnistriens, unserer Landsleute, ist eine der Prioritäten".
Die Wortwahl erinnert an ein ähnliches Szenario: Im Februar 2022 hatten pro-russische Separatisten im Osten der Ukraine um russischen Beistand gebeten, was Moskau als Anlass für seinen groß angelegten Angriff auf die Ukraine nutzte. In seiner Rede der Nation ging Putin jedoch nicht explizit darauf ein.
Deutsche Außenpolitiker mahnen zur Gelassenheit
In Deutschland hat Putins Rede eher für nüchterne Reaktionen gesorgt. Außenpolitiker verschiedener Parteien warnten davor, sich durch die Drohungen des russischen Präsidenten vor einer atomaren Eskalation des Krieges in der Ukraine einschüchtern zu lassen. "Er wiederholt seine hinlänglich bekannten Schuldzuweisungen und Drohungen gegenüber dem Westen", sagte etwa der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Michael Roth (SPD) dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND). "Wir dürfen uns davon nicht beeindrucken lassen." (externer Link)
Ähnlich äußerten sich weitere Fachpolitiker von Union, Grünen und FDP. Der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter betonte, es sei "kein Nukleareinsatz zu erwarten". Das sei durch China und die USA bereits längst mit Putin vereinbart worden. "Wir sollten uns nicht zu Opfern und Jüngern seiner Rhetorik machen", sagte Kiesewetter dem RND. Der FDP-Verteidigungsexperte Marcus Faber forderte im Gegenteil mehr Munition für die Ukraine. Er glaube, dass Russland schon jetzt "militärisch mit dem Rücken an der Wand" stehe. (externer Link)
Im Video: Putins Rede an die Nation
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