In der Ukraine ist es trotz der von Kremlchef Wladimir Putin einseitig verkündeten anderthalb Tage langen Waffenruhe zu erneuten Kämpfen gekommen. Die Ukraine, die die Feuerpause anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfests als heuchlerisches Ablenkungsmanöver der russischen Angreifer ablehnt, erklärte am Freitag, ihre Soldaten hätten vor allem im östlichen Donezker Gebiet wieder angegriffen. "Auf diese Weise gratulieren sie den Besatzern zum bevorstehenden Weihnachten!", teilte das Verteidigungsministerium in Kiew mit. In der Kleinstadt Bachmut seien Stellungen der Russen mit 120-Millimeter-Mörsergranaten beschossen worden.
Trotz Waffenruhe Luftalarm in der ganzen Ukraine
Angegriffene russische Truppen erwiderten Moskau zufolge auch das Feuer. Offiziell ist die von Russlands Präsident Wladimir Putin angeordnete Feuerpause anlässlich des orthodoxen Weihnachtsfests aber in Kraft getreten. Sie gelte entlang der gesamten Front in der Ukraine, meldete das russische Staatsfernsehen laut der Nachrichtenagentur Reuters.
Für rund zwei Stunden galt am Freitag für die gesamte Ukraine allerdings trotz der Waffenruhe Luftalarm. Der Auslöser dafür sollen Medienberichten zufolge mehrere über dem benachbarten Belarus aufgestiegene russische Flugzeuge gewesen sein, die Angst vor neuen Angriffen schürten.
Russisches Militär spricht von Angriffen ukrainischer Artillerie
Das russische Militär wiederum warf der ukrainischen Seite Angriffe vor. Obwohl sich das russische Heer an die Feuerpause halte, habe die Ukraine weiter mit Artillerie auf Ortschaften und Positionen gefeuert, erklärte Armeesprecher Igor Konaschenkow in Moskau. Es gab demnach an drei Frontabschnitten Gefechte.
Feuerpause soll anderthalb Tage gelten
Es ist das erste Mal seit Kriegsbeginn im Februar 2022, dass Moskau eine vollständige Waffenruhe in dem von russischen Truppen völkerrechtswidrig angegriffenen Land ankündigt. In Putins Dekret heißt es: "Unter Berücksichtigung des Aufrufs von Patriarch Kyrill beauftrage ich das russische Verteidigungsministerium vom 6. Januar 12.00 Uhr mittags (10.00 Uhr MEZ) bis 7. Januar 24.00 Uhr (22.00 Uhr MEZ) eine Feuerpause entlang der gesamten Linie der bewaffneten Auseinandersetzung in der Ukraine in Kraft zu setzen."
Zuvor hatte Kyrill, das einflussreiche Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche, zu einer Waffenruhe in der Ukraine über Weihnachten aufgerufen. Kyrill ist ein vehementer Unterstützer Putins und predigt gegen Kiew und den Westen. Die orthodoxen Kirchen in Russland und in der Ukraine feiern die Geburt Jesu Christi traditionell nach dem julianischen Kalender am 7. Januar.
Besatzungschef: Keine Angriffshandlungen
Ein Besatzungschef vorab aber gesagt, russische Truppen würden ungeachtet von Putins Befehl auch weiterhin ukrainische Angriffe erwidern. "Die Entscheidung betrifft die Einstellung des initiativen Feuers und der Angriffshandlungen von unserer Seite", schrieb der von Moskau im ostukrainischen Gebiet Donezk eingesetzte Denis Puschilin im Nachrichtendienst Telegram. "Das bedeutet nicht, dass wir nicht auf Provokationen des Gegners antworten werden! Oder dem Feind auch nur irgendeine Chance geben werden, während dieser Feiertagsstunden seine Positionen an der Frontlinie zu verbessern."
Kiew: "Heuchelei" und "Propaganda"
Die Ukraine reagierte zuletzt mit Kritik auf die angekündigte Feuerpause. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, Russland wolle damit nur das Vorrücken der ukrainischen Streitkräfte im Donbass stoppen und mehr Ausrüstung in Stellung bringen. Weiter erklärte er: "Was wird das Ergebnis sein? Mehr Tote."
In Kiew ist darüber hinaus von "Heuchelei" und "Propaganda" die Rede. "Russland muss die besetzten Gebiete verlassen – nur dann wird es eine 'zeitweilige Waffenruhe' geben", schrieb der Berater im ukrainischen Präsidentenbüro, Mychajlo Podoljak, auf Twitter. Im Gegensatz zum russischen Gegner greife die Ukraine kein fremdes Territorium an und töte keine Zivilisten.
Beobachter in Kiew gingen zuletzt davon aus, dass die Feuerpause den Ukrainern zwar möglicherweise Angriffe mit Raketen und Drohnen über die Weihnachtstage ersparen könnte. An den Fronten im Osten und Süden des angegriffenen Landes hingegen werde sich die Lage hingegen wohl kaum verändern.
Skeptische Reaktionen aus dem Westen
Auch die Bundesregierung und andere westliche Politiker reagierten auf Putins Ankündigung zurückhaltend. EU-Ratschef Charles Michel warf Russland heuchlerisches Verhalten vor: Ein Rückzug der russischen Truppen sei die einzige ernsthafte Option, um Frieden und Sicherheit wiederherzustellen, schrieb er auf Twitter. US-Präsident Joe Biden sagte, Putin wolle sich wohl nur Luft verschaffen.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf Twitter: "Wenn Putin Frieden wollte, würde er seine Soldaten nach Hause holen, und der Krieg wäre vorbei. Aber offenbar will er den Krieg fortsetzen, nach kurzer Unterbrechung." Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) bezeichnete die von Putin angekündigte Waffenruhe in der Sendung "RTL Direkt" als "wenig glaubhaft". Der britische Außenminister James Cleverly erklärte, die angekündigte russische Waffenruhe würde "nichts dazu betragen, die Aussichten auf Frieden zu verbessern".
Mit Informationen von Reuters, dpa und AFP
Karte: Die Lage in der Ukraine
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