Es gibt viele Parallelen zwischen der Debatte um Asyl Anfang der 90er Jahre und heute. Damals wie heute klagen Kommunen über Überforderung. Unterkünfte sind knapp. Weil Lösungsvorschläge und politische Forderungen sich gleichen, lohnt sich ein Blick zurück.
Damals wird die Debatte äußerst scharf geführt. Es ist von "Asylmissbrauch", "Scheinasylanten" und "Wirtschaftsflüchtlingen" die Rede. Das gerade wiedervereinigte Deutschland erlebt eine Welle rechtsextremer Gewalt vor allem gegen Asylbewerber, trifft aber auch Migranten, die schon lange in Deutschland leben. Das Pogrom von Hoyerswerda 1991, die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992, der Anschlag von Mölln mit drei Toten 1992 und schließlich der Brandanschlag in Solingen 1993 bilden die traurigen Höhepunkte in dieser Zeit.
Die Union wollte die Grundgesetzänderung unbedingt
Die Zahl der Asylbewerber erreichte 1992 mit rund 440.000 einen Höchststand. Günther Beckstein war Anfang der 90er Jahre einer der prägenden Köpfe der Asyldebatte. "Natürlich war das Asylrecht etwas, das für Deutschland eine ganz besondere Bedeutung hatte", erinnert sich der CSU-Politiker und langjährige bayerische Innenminister an die Zeit. Trotzdem wollte die Union und allen voran die CSU das Grundrecht auf Asyl stark einschränken. "Es war völlig eindeutig, dass es nicht anders geht", sagt Beckstein im BR-Podcast "Die Entscheidung".
Für die Zwei-Drittel-Mehrheit brauchte es die SPD
Doch für eine Grundgesetzänderung brauchte die Union, die damals im Bund mit der FDP regierte, eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag. Das ging nicht ohne die SPD. Die war damals in der Opposition. Renate Schmidt war Anfang der 90er an der Spitze der Bayern-SPD. Der Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" im Grundgesetz bedeutet der SPD sehr viel. Schließlich mussten viele Sozialdemokraten in der Nazizeit ins Exil. "Also für uns gehört diese Frage zu unseren parteiinternen Genen", sagt Renate Schmidt heute.
Viele Bürgerkriegsflüchtlinge beantragten Asyl
Dass Anfang der 90er so viele Asylbewerber kamen, lag zum einen am Zusammenbruch der Sowjetunion. Polen und Rumänien waren zum Beispiel noch stark im Umbruch und Angehörige diskriminierter Minderheiten wie die Roma suchten Schutz in Deutschland. Vor allem aber die Kriege im zerfallenden Jugoslawien sorgten für eine hohe Zahl an Asylbewerbern. Sie beantragten Asyl, weil es damals keinen eigenen Status für Bürgerkriegsflüchtlinge gab. Weniger als zehn Prozent aller Asylbewerber wurden daher anerkannt.
CSU wollte Asylbewerbern den Klageweg abschneiden
Die CSU störte, dass jeder, der abgelehnt wird, die Möglichkeit hat, gegen die Ablehnung zu klagen. Günther Beckstein war damals auch für die Verwaltungsgerichte zuständig. Bundesweit türmten sich 300.000 unerledigte Fälle bei den Gerichten. "Wir wussten, dass die Justiz mit dem Problem nicht fertig wird", erinnert sich Beckstein. Er ging mit der CSU damals aufs Ganze. Er wollte das individuelle Recht auf Asyl abschaffen und durch eine sogenannte institutionelle Garantie ersetzen. Damit nicht jeder, egal woher er kommt, Asyl beantragen und einklagen kann. Der Vorschlag kommt auch heute wieder aus der Union, CSU-Ministerpräsident Markus Söder drückt es so aus: "Nicht die Gerichte sollen entscheiden, sondern die Politik soll sagen, was sie sich vorstellt."
Union verstärkte den Druck auf die SPD
1991 und 1992 erhöhte die Union den Druck auf die SPD, und zwar ganz gezielt auf die Kommunalpolitiker der Partei. "Wir waren uns bewusst, dass wir die SPD vor uns hertreiben müssen, um eine Änderung zu erreichen", erklärt Günther Beckstein die Strategie der Union. Renate Schmidt, die Vorsitzende der Bayern SPD, reiste damals viel durchs Land; sie wollte Ministerpräsidentin werden. Und spürte den Druck, der auf ihren Parteikolleginnen und -kollegen lastet. "Bei uns in der Bayern-SPD war es zum damaligen Zeitpunkt so, dass, wo immer ich hingekommen bin, mir die Kommunalpolitiker und Kommunalpolitikerinnen der SPD gesagt haben: "Renate, wir schaffen das nicht mehr. Ihr müsst irgendwas machen. Wir bringen die Menschen nicht mehr unter. Die Stimmung bei uns kippt, das geht so nicht mehr weiter."
Asylkompromiss schränkt Recht auf Asyl deutlich ein
So kippte schließlich auch die SPD beim Streit um Asyl. Die Partei handelte mit Union und FDP den sogenannten Asylkompromiss aus, der im Mai 1993 mit einer Grundgesetzänderung beschlossen wurde. Der Satz "Politisch Verfolgte genießen Asylrecht" steht zwar auch im neuen Artikel 16a Grundgesetz. Jetzt aber mit der Einschränkung: Nur, wenn sie nicht über einen sicheren Drittstaat einreisen. Günther Beckstein konnte damit gut leben. Als die Grundgesetzänderung in Kraft tritt, wird er Bayerischer Innenminister. "Wir haben immer ironisch davon gesprochen, dass wir von sicheren Drittstaaten umzingelt sind", sagt er. Damals sei er davon ausgegangen "dass wir an der Grenze die Asylbewerber zurückweisen können, weil sie aus einem sicheren Drittstaat kommen."
Die Zahl der Asylbewerber sinkt tatsächlich nach 1993 kontinuierlich, hauptsächlich aber, weil die Jugoslawien-Kriege enden. Zurückweisungen gibt es bald nicht mehr, weil die Grenzkontrollen durch das Schengen-Abkommen fallen. Erst ab 2008 kamen wieder mehr Flüchtlinge nach Deutschland – auch, weil das Dublin-System, das die Asylverfahren an die Länder am äußeren Rand der EU verlagerte, nach und nach scheiterte. Und in den Jahren 2014 bis 2016 mit dem Ausbruch des Syrienkrieges schließlich vorübergehend kollabierte.
Parallelen zur Asyldebatte heute
Renate Schmidt steht im Rückblick zu der Entscheidung ihrer Partei, dem Asylkompromiss zuzustimmen. Sie sieht klar Parallelen zur Asyldebatte heute. Sie betont, es gebe in der Asylpolitik keine Patentlösung, immer nur Teillösungen. Der Asylkompromiss damals sei so eine Teillösung gewesen "Menschen einerseits zu helfen und andererseits uns dabei nicht zu übernehmen."
Anders als damals werden Asylbewerber heute vor allem nach europäischem und internationalem Recht anerkannt. Die Mehrzahl der Asylbewerber erhält einen Schutzstatus, darf also zumindest vorübergehend in Deutschland bleiben. Artikel 16a GG spielt dabei nur noch eine untergeordnete Rolle. Eine Streichung des Rechts auf Asyl aus dem Grundgesetz – wie von manchen wieder gefordert – ist dennoch auch heute juristisch und politisch hoch umstritten.
Mehr zum Thema im Podcast "Die Entscheidung", der ab sofort in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt, abrufbar ist. In vier Folgen verfolgt Host Jasmin Brock den Streit um Asyl zurück in die 90er Jahre, als Asylbewerberunterkünfte brannten und Union, FDP und SPD sich auf den sogenannten Asylkompromiss einigten. Im Radio zu hören in Bayern 2 am Samstag, 9.11., um 17.05 Uhr und in BR24 Radio am Sonntag, 10.11., um 8.30 Uhr.
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