Vor zehn Jahren begannen in Istanbul die Gezi-Park-Proteste. Zunächst ging es nur um die Zukunft eines 3,8 Hektar großen Parks am zentralen Taksim-Platz. Aktivisten hatten sich in dem kleinen Park versammelt. Sie schlugen Zelte auf, machten Musik und wollten so die Abholzung der Bäume für ein Einkaufszentrum verhindern. Jeden Abend gingen Menschen auf ihre Balkone und machten mit Töpfen und Trillerpfeifen Lärm gegen die Pläne.
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Protest um Park weitete sich aus
Schnell weitete sich der Protest aus und wurde zu einem Protest gegen die Regierung von Recep Tayyip Erdoğan, der damals noch Ministerpräsident war. Die Menschen forderten mehr Demokratie, mehr Meinungsfreiheit und den Rücktritt der Regierung. Die Polizei ging brutal mit Wasserwerfern, Tränengas, Gummigeschossen und Schlagstöcken gegen die Demonstranten vor - die Bilder gingen um die Welt.
Schon damals hatten viele Türkinnen und Türken auf einen Wandel und mehr Freiheit gehofft. Zehn Jahre danach hoffen sie erneut. Heute steht in der Türkei die Stichwahl um das Präsidentenamt an. Im Rennen treten Präsident Erdoğan und sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu an. Der 69-jährige islamisch-konservative Staatschef geht als Favorit ins Rennen. Er lenkt seit 20 Jahren die Geschicke des Landes. Im Fall seines erneuten Siegs wird erwartet, dass er seine Macht zementiert und seinen autoritären Kurs weiter verschärft. Kılıçdaroğlu verspricht - sollte er die Stichwahl gewinnen - umfassende Reformen, mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie die Freilassung von Gefangenen, die nach den Gezi-Park-Protesten verurteilt wurden.
"Die Wahl ist für mich existenziell"
Die Stichwahl entscheidet nicht nur über die Zukunft der Demokratie in der Türkei, sondern auch über das Schicksal vieler Menschen, die wegen der Gezi-Park-Proteste noch immer in Haft sind. Für Cansu Yapıcı zum Beispiel geht es darum, ob sie ihre 71-jährige Mutter noch einmal in Freiheit sehen kann. Cansus Mutter, die Architektin Mücella Yapıcı, war vor zehn Jahren durch ihren Einsatz gegen die Bebauung des Parks bekannt geworden.
"Wenn wir in einem Land mit Rechtsstaatlichkeit leben würden, dann müssten wir gar nicht darüber reden, dass die Inhaftierung meiner Mutter etwas mit dem Wahlausgang zu tun hat", sagt die 35 Jahre alte Cansu Yapici. Sie hoffe, dass bei einem Sieg Kılıçdaroğlus die Türkei wieder zu einem Rechtsstaat werde. "Die Wahl ist für mich existenziell."
Auch das Schicksal von Osman Kavala hängt vom Wahlausgang ab
Auch für den Kultumäzen Osman Kavala würde der Wahlsieg der Opposition wohl bedeuten, dass er frei kommen würde. Er sitzt seit 2017 im Gefängnis. Im April 2022 wurde Kavala im Zusammenhang mit den Gezi-Protesten zu lebenslanger Haft verurteilt. In der bei jungen Menschen beliebten Youtube Show Babala TV, in dem Zuschauer der gegnerischen Seite dem Gast Fragen stellen dürfen, erklärte Kılıçdaroğlu vor kurzem, warum Kavala frei kommen müsse, auch wenn Erdoğan ihn als Terroristen bezeichnet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte habe das angeordnet, sagt er. Kılıçdaroğlu benutzte oft das Wort Rechtsstaatlichkeit und hielt eine mitgebrachte Ausgabe der Verfassung immer wieder hoch.
Allzu große Hoffnungen auf die baldige Freilassung ihrer Mutter macht sich Yapıcı jedoch nicht, denn Erdoğan geht als Favorit ins Rennen. In der ersten Runde der Präsidentenwahl vor zwei Wochen verfehlte der amtierende Präsident die absolute Mehrheit nur knapp. Er erhielt rund 2,5 Millionen Stimmen mehr als sein Herausforderer, trotz zahlreicher Probleme im Land wie etwa einer Währungs- und Wirtschaftskrise. Internationale Beobachter bewerten die Abstimmung als grundsätzlich frei, bemängelten aber einen unfairen Wahlkampf.
Einen Tag vor der Wahl schrieb die Taksim Gezi Park-Gruppe auf Twitter: "Vor 10 Jahren haben wir mit unserem Widerstand den Gezi-Park als Park erhalten. Jetzt können wir alle zum 10. Jahrestag die Ankunft des Frühlings feiern". Der Wahlkampfspruch der Opposition lautet: "Versprochen, es wird wieder Frühling werden."
Mit Informationen von dpa
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