Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan (AKP) lag in der ersten Runde der Präsidentschaftswahl bei 49,5 Prozent - er hätte es also fast geschafft, wieder gewählt zu werden. Entsprechend groß war die Enttäuschung bei den Anhängern seines Herausforderers Kemal Kılıçdaroğlu (CHP), der 44,9 Prozent der Stimmen erhielt. Um doch noch zu gewinnen, müsste der 74 Jahre alte Oppositionspolitiker heute in der zweiten Runde etwas mehr als fünf Prozentpunkte zulegen. Ausgeschlossen ist das nicht. Immerhin hat er neue Unterstützer. Der 69 Jahre alte Erdoğan aber auch. Der Drittplatzierte Rechtsaußenkandidat Sinan Oğan stellte sich hinter den amtierenden Präsidenten. Inwieweit seine 2,8 Millionen Wähler - viele davon sind Protestwähler - der Empfehlung folgen, ist unklar.
Scharfe Töne gegen Flüchtlinge
Kılıçdaroğlu, hinter dem ein Sechser-Bündnis steht, erhält Unterstützung von der linksgerichteten, prokurdischen HDP. Doch seine Politik der gesellschaftlichen Versöhnung über Identitätsgrenzen hinweg ist vorerst gescheitert. Im Wahlkampf vor der Stichwahl schlug der Politiker, der zur alevitischen Minderheit gehört, scharfe Töne an. In einem offensichtlichen Versuch, nationalistische Wähler zu gewinnen, versprach Kılıçdaroğlu mit Blick auf die rund vier Millionen Syrer in der Türkei, er werde "alle Flüchtlinge nach Hause schicken, sobald ich an die Macht komme". Der Umgang mit Flüchtlingen war über alle politische Lager hinweg ein großes Thema im Wahlkampf. Die kleine rechtsnationale Zafer-Partei unterstützt Kılıçdaroğlu nun in der zweiten Runde - das könnte allerdings kurdische Unterstützer frustrieren, denn die Zafer-Partei gilt als Gegner der HDP.
"Morgen ist nicht der Weltuntergang, aber es könnte die letzte Wahl sein"
Selahattin Demirtaş, ehemaliger Co-Vorsitzender der HDP, der seit fast sieben Jahren im Gefängnis sitzt, rief dennoch zur Wahl von Kılıçdaroğlu auf. Er schrieb am Samstag auf Twitter: "Morgen ist nicht das Ende der Welt, aber es könnte das Ende der Demokratie und der Wirtschaft sein. Morgen ist nicht der Weltuntergang, aber es könnte die letzte Wahl sein."
Manipulierte Videos im Wahlkampf
Schon nach dem ersten Wahlgang hatten internationale Wahlbeobachter den unfairen Wahlkampf und die Omnipräsenz Erdoğans in den Medien kritisiert. Kritik gibt es auch dieses Mal. Der Wahlkampf sei "ziemlich aggressiv, konfrontativ und für die Opposition sehr schmutzig verlaufen", sagte der Essener Politologe und Türkei-Experte Burak Çopur im Gespräch mit BR24. "Präsident Erdoğan hat es geschafft, durch seine verleumderische Kampagne gegenüber der Opposition der Wahlbevölkerung weiszumachen, dass Kemal Kılıçdaroğlu angeblich mit der PKK kooperiert und von der PKK unterstützt wird." Erdoğans zeigte dafür sogar ein manipuliertes Video. Drei Tage vor der Wahl reichte Kılıçdaroğlu deswegen eine Klage gegen den Präsidenten ein. Doch der politische Schaden ist wohl nicht wieder gut zu machen. Çopur: "Große Teile der Wahlbevölkerung haben Erdoğan diese Schmutzkampagne abgekauft."
"Der andere Kandidat"
Auch im Fernsehen war der Oppositionskandidat nur wenig zu sehen. Der regierungsfreundliche Sender A Haber hielt es noch nicht einmal für nötig, Kılıçdaroğlus Namen zu nennen oder sein Bild zu zeigen, sondern bezeichnete ihn in einer Grafik nur als "der andere Kandidat". Die Stichwahl sei eine noch größere Herausforderung für Kılıçdaroğlu, so Çopur. Dennoch glaubt der Politologe: "Die Opposition hat – wenn auch eine sehr geringe – Chance, die Wahlen noch zu gewinnen."
Im Fall eines erneuten Sieges des Amtsinhabers wird erwartet, dass dieser seine Macht zementiert und seinen autoritären Kurs weiter verschärft. Erdoğan hatte 2017 nach einem Referendum das Präsidialsystem eingeführt, das ihm weitreichende neue Befugnisse gab. Nicht nur die Opposition, auch westliche Länder werfen Erdoğan vor, in einen Autoritarismus abgeglitten zu sein.
Kılıçdaroğlu hat für den Fall seines Sieges umfassende Reformen für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei angekündigt. Die Opposition will das Präsidialsystem abschaffen und die Gewaltenteilung wieder einführen, politische Gefangene freilassen und Meinungsfreiheit garantieren.
Türken in Bayern blicken gespannt auf die Stichwahl
Die rund 1,5 Millionen in Deutschland lebenden wahlberechtigten Türken und Türkinnen konnten ihre Stimmen für die Stichwahl bereits abgeben. Im ersten Wahldurchgang hatte eine deutliche Mehrheit der Deutschtürken für Erdoğan gestimmt. Auch Türken sowie türkischstämmige Menschen hierzulande blicken gespannt auf die Wahl: Erdoğan verfolge einen Kurs, den er von Anfang an durchziehe, sagte eine 55 Jahre alte Frau aus Schwaben. "Erdoğan wird der klare Sieger." Kılıçdaroğlus Annäherung an die Zafer-Partei nennt sie dagegen "eine Blamage".
Und eine junge Erstwählerin aus Augsburg, die für die CHP gestimmt hat, zeigt sich enttäuscht. "Ich habe eigentlich schon die Hoffnung aufgegeben, dass Kılıçdaroğlu gewinnt", so die Studentin. "Für mich hat der Wahlkampf der Opposition zuletzt verzweifelt gewirkt, Erdoğan dagegen war ziemlich siegessicher. Ich finde es bitter, dass die Türkei selbst jetzt noch fast eindeutig hinter Erdoğan steht und mache mir Sorgen um die Zukunft."
Die letzte Umfrage sah Erdoğan bei 52,7 Prozent, Kılıçdaroğlu bei 47,3 Prozent - allerdings, bei der ersten Runde lagen die Umfragen daneben. Die Wahllokale in der Türkei öffnen um 7.00 Uhr (MESZ) und schließen um 16.00 Uhr (MESZ). Erste Teilergebnisse, die zunächst wenig Aussagekraft haben, werden noch am Abend erwartet. Für Politikwissenschaftler Çopur ist klar: "Egal wer letztlich gewinnt. Das Land ist jetzt schon sehr weit nach rechts gerückt, so dass eine friedliche Lösung der Kurdenfrage sowie andere gesellschaftspolitische Themen wie Frauen- oder LGBTQ-Rechte in weite Ferne gerückt sind."
Mit Informationen von dpa und AFP
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