(Symbolbild) Bei den Neuwahlen können die Franzosen über ihr neues Parlament abstimmen.
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(Symbolbild) Bei den Neuwahlen können die Franzosen über ihr neues Parlament abstimmen.

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Urnengang in Frankreich: "An diese Wahl werden wir uns erinnern"

Frankreich wählt ein neues Parlament. Und alle fragen sich: Wird der Rassemblement National wirklich bald das Land regieren? Über eine Wahl, die Frankreich in seinen Grundzügen verändern könnte.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Drei Wochen sind verstrichen, seit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die Pariser Nationalversammlung auflöste und Neuwahlen des Parlaments am 30. Juni und 7. Juli ausrief. Drei Wochen heftiger Wahlkampf mit Wendepunkten, die eher an Polit-Entertainment-Serien und Telenovelas erinnern als an die Realität. Macron selbst steht nicht zur Wahl und garantiert, er werde bis 2027 Präsident bleiben.

Obwohl sich zum Zeitpunkt der Europawahl, laut Umfragen des Meinungsforschungsinstituts Ipsos, die Mehrheit der Bevölkerung dafür aussprach, das Parlament aufzulösen und neu zu wählen, kam die Entscheidung Macrons doch sehr überraschend.

Ein fassungsloses Präsidentenlager

Noch immer rätseln die meisten, was Macron zu diesem Schritt bewegte. Nahezu die gesamte Regierungsmannschaft konnte die Entscheidung nicht nachvollziehen. Premierminister Gabriel Attal, der den Wahlkampf für Macrons Partei Renaissance führt und erst seit fünf Monaten im Amt ist, überlegte laut übereinstimmenden Medienberichten, hinzuschmeißen. Der Wirtschafts- und Finanzminister Bruno Le Maire echauffierte sich öffentlich, die Neuwahl sei die Entscheidung "eines einzelnen Mannes". Später bezeichnete er die Berater Macrons, die dem Präsidenten die Idee ins Ohr geflüstert haben sollen, als "cloportes" (dt.: Schädlinge).

Nur sehr wenige aus dem Präsidentenlager glauben an einen Sieg. In Frankreich gilt nämlich kein Verhältniswahlrecht wie in Deutschland, sondern für jeden der 577 Wahlkreise das Mehrheitswahlrecht. Kandidaten müssen entweder eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgang erreichen oder in eine Stichwahl. An der Stichwahl kann jeder Kandidat teilnehmen, für den im ersten Durchgang mehr als 12,5 Prozent der Wahlberechtigten stimmten. Selbst wenn die Liste Ensemble, unter der Kandidaten der bisherigen Regierungsparteien Renaissance, Horizons und MoDem zusammengeführt sind, landesweit 20 Prozent der Stimmen holen, könnten sie aufgrund des Wahlrechts nur 110, im schlimmsten Fall sogar nur 80 Abgeordnete stellen. Bis zur Auflösung vor drei Wochen waren es noch 250.

Zusammenschluss der Linken

Völlig unerwartet schlossen sich die großen linken Parteien sehr schnell im Bündnis Nouveau Front Populaire zusammen. Unerwartet, weil sich in den vergangenen Monaten vor allem die Politiker von La France Insoumise (LFI, dt.: Unbeugsames Frankreich) mit den Kommunisten, Grünen und speziell den Sozialisten bekämpft hatten. LFI war im bisherigen Linksbündnis Nupes die Partei, die die meisten Vertreter im Parlament stellte. Der mehrfache Präsidentschaftskandidat Jean-Luc Mélenchon, ein guter Bekannter von Oskar Lafontaine, gründete LFI im Jahr 2016. Laut einer Studie sehen 57 Prozent der Franzosen in La France Insoumise eine Gefahr für die Demokratie. Beim Rassemblement National (RN) sind es 52 Prozent, laut einer Studie des Instituts Ipsos/Steria, der Elite-Hochschule Sciences Po, der Jean-Jaurès-Stiftung und des Institut Montaigne.

Unter unabhängigen Beobachtern herrscht mittlerweile fast einhellig die Meinung, dass der – laut oberstem Verwaltungsgerichtshof Conseil d‘État – "extrem rechte" Rassemblement National auch deshalb "dediabolisiert" und "normalisiert" sei, weil sich die Linkspopulisten von La France Insoumise im Parlament viel schlimmer verhalten. Während die Abgeordneten des RN meist ruhig blieben, Anzug und Krawatte trugen, sorgten LFI-Wortführer für mehrere Kontroversen, in letzter Zeit vor allem, wenn es um den Gaza-Krieg ging.

Linkes Lager kämpft gegen Antisemitismus-Vorwürfe

Als die Parlamentspräsidentin Yaël Braun-Pivet (Renaissance) am 22. Oktober 2023 nach Israel flog, schrieb Mélenchon auf X/Twitter, Braun-Pivet würde in Tel Aviv "campen, um das Massaker in Gaza zu unterstützen". Einige Tage später boykottierten die Unbeugsamen den "Marsch gegen den Antisemitismus" am 12. November, bei dem sich im ganzen Land fast 200.000 Menschen versammelten. Mélenchon ging sogar noch weiter und schrieb auf X/Twitter: "Die Freunde der bedingungslosen Unterstützung des Massakers halten ihr Treffen ab." Statt Mélenchon liefen Marine Le Pen, Jordan Bardella und weitere Vertreter des Rassemblement National mit. Der berühmte Nazi-Jäger Serge Klarsfeld sagte gar, dass er in einer Stichwahl zwischen einem RN-Kandidaten und einem Vertreter des Nouveau Front Populaire für den Rassemblement National seine Stimme abgeben würde. Der Dachverband der jüdischen Gemeinde Crif warnte jedoch vor der extrem rechten Partei.

Auch innerhalb der linken Parteien kam es zu heftigen Auseinandersetzungen. Speziell der Spitzenkandidat der Sozialisten bei der Europawahl, Raphaël Glucksmann, attackierte die Linkspopulisten während des Wahlkampfs immer wieder – und wurde im Gegenzug physisch von LFI-Anhängern angegriffen. Bei einer Demo am 1. Mai in Saint-Étienne vertrieben Protestierende Glücksmann und warfen Farbe nach ihm.

Doch ein gemeinsamer Feind verbindet. Binnen weniger Stunden fanden Vertreter der linken Parteien zusammen und entwarfen ein gemeinsames Programm. Darin unter anderem enthalten: eine höhere Besteuerung für die reichsten acht Prozent, die Wiedereinführung der von Macron abgeschafften Solidaritätssteuer auf Vermögen und die Anhebung des Mindestlohns von 1.400 auf 1.600 Euro. Kritiker bemängeln, die vielen Mehrausgaben seien nicht finanzierbar. Das Programm wird jedoch von namhaften Wirtschaftswissenschaftlern wie der Nobelpreisträgerin Esther Duflo, Julia Cagé und Thomas Piketty unterstützt.

Zusammenbruch der Konservativen

Auf der anderen, der rechten Seite des Parteienspektrums ging es nicht minder spannend zu. Die konservativen Republikaner (LR) spalteten sich nach der Auflösung des Parlaments in zwei Lager auf.

Während der Großteil der Mandatsträger einen unabhängigen Wahlkampf führen wollte, versuchte der Vorsitzende der Partei, Éric Ciotti, ein Bündnis mit dem Rassemblement National einzugehen. Er kündigte dies ohne Rücksprache mit seinem Vorstand in Medien an. Ciotti schloss sich im Anschluss sogar in der Parteizentrale ein, weil er um seine Sicherheit fürchtete, wie er sagte. Die Generalsekretärin musste den Zweitschlüssel holen, um das Haus aufzusperren. Ein Gremium aus knapp hundert hochrangigen Parteimitgliedern beschloss, Ciotti aus der Partei auszuschließen. Der wehrte sich und bekam vor Gericht vorerst recht.

Jedoch folgten kaum Mandatsträger Ciotti in die Allianz mit dem RN. In einigen Wahlkreisen wird es jedoch zwei LR-Kandidaten geben, die um das Mandat konkurrieren.

Demokratisch-republikanisches Bündnis gegen den RN unwahrscheinlich

Der Rassemblement National steht in den Umfragen bisher unangefochten auf dem ersten Platz. Laut Ipsos würde die Liste von RN und den Kandidaten Ciottis rund 36 Prozent landesweit erhalten. Jedoch sind seriöse Prognosen aufgrund des Wahlsystems nicht möglich.

Allerdings gibt es Argumente für einen Durchmarsch des Rassemblement National. Politikwissenschaftler und Demoskopen weisen darauf hin, dass sich dieses Mal Konservative, Zentristen und Linke wohl kaum zusammenschließen werden, um den RN an der Macht zu hindern.

Seit den Präsidentschaftswahlen 2017 und 2022, bei denen immer noch viele Macron die Stimme gaben, weil sie in ihm das kleinere Übel im Vergleich zu Le Pen sahen, hat sich die Stimmung gedreht. Viele Linke finden Macron genauso oder gar noch schlimmer als Le Pen, "verabscheuen" oder "hassen" den Präsidenten sogar, wie Ipsos-Demoskop Mathieu Gallard sagt. Auf der anderen Seite ist Jean-Luc Mélenchon von La France Insoumise wesentlich unbeliebter als Marine Le Pen und der RN-Parteivorsitzende Jordan Bardella.

Aufstieg des "Polit-Influencers" Bardella

Der erst 28-jährige Bardella gewann erst kürzlich die Europawahl mit dem Rassemblement National. Nun bewirbt er sich auf das Amt des Premierministers. Bardella sei so etwas wie der erste "Polit-Influencer" Frankreichs, sagt Pierre-Stéphane Fort. Der Investigativjournalist hat ein Buch über den engen Vertrauten Marine Le Pens geschrieben ("Jordan Bardella: le grand remplaçant?") und beschreibt, wie er vielen jungen Bardella-Anhängern begegnet, die den Politiker nur durch seinen Social-Media-Auftritt wahrnehmen. Bardella folgen allein mehr als 1,6 Millionen Nutzer auf Tiktok.

Bardella spricht im Wahlkampf vor allem in Schlagzeilen und Buzzwords. So möchte er einen "Big Bang der Autorität", Geflüchtete schneller abschieben und das sogenannte Bodenrecht (droit du sol) abschaffen. Kinder, die auf dem französischen Staatsgebiet geboren wurden, dürfen zu ihrem 18. Geburtstag die Staatsbürgerschaft erwerben, selbst wenn ihre Eltern nicht Franzosen sind. Dafür müssen sie mindestens fünf Jahre lang in Frankreich gelebt haben und nun wohnen.

Der Rassemblement National möchte zwar nicht die doppelte Staatsbürgerschaft infrage stellen, dennoch prüfen, ob einige "strategische Berufe in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung ausschließlich französischen Staatsbürgern" vorbehalten sein sollten. In einer TV-Debatte warf Premier Gabriel Attal seinem RN-Kontrahenten vor, er würde die 3,5 Millionen Franzosen mit doppelter Staatsbürgerschaft damit "demütigen" und ihre Loyalität infrage stellen. Bardella fragte daraufhin, ob Attal einen "Franko-Russen" ein Atomkraftwerk leiten ließe. Der entgegnete, dass die Sicherheitsberaterin der ID-Fraktion im Europaparlament, der Bardella angehört, Franko-Russin sei.

Wahl von historischer Bedeutung

Der Historiker Pascal Blanchard nahm kürzlich an der Diskussionssendung "C ce soir" im französischen Fernsehen teil. Dort sagte der Spezialist für Kolonialismus: "Wir hatten viele Wahlen, die wir schnell wieder vergessen haben. An diese werden wir uns erinnern. Über diese Wahl werden wir noch in 40 Jahren Bescheid wissen und in Geschichtsbüchern darauf zurückschauen." Er sprach damit vielen Franzosen aus der Seele – ob sie nun Vorfreude auf einen Wechsel oder Furcht spüren.

Parlamentswahl in Frankreich
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