Seit 20 Jahren regiert Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei – zunächst als Ministerpräsident und seit 2014 als Präsident. Der heute 69-Jährige stammt aus einfachen Verhältnissen, wurde an der Schwarzmeerküste geboren und wuchs in einem Istanbuler Arbeiterviertel auf. Er begann früh, sich politisch im religiös-konservativen Lager zu engagieren und wurde überraschend 1994 zum Oberbürgermeister Istanbuls gewählt. 2002 gewann die von Erdoğan mitgegründete Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die Parlamentswahlen und 2003 übernahm er das Amt des Ministerpräsidenten.
Wirtschaftswachstum am Beginn der Amtszeit Erdoğan
Als Ministerpräsident gelang es Erdoğan zunächst, das türkische Wirtschaftswachstum massiv anzukurbeln und die Lebensverhältnisse vieler Einwohner stark zu verbessern. Sehr viele Türkinnen und Türken schafften in dieser Zeit den Sprung aus der armen Bevölkerungsgruppe in die Mittelschicht. Der wirtschaftliche Aufschwung begründete die Popularität Erdoğans, der auch die Rolle des Islam in der Gesellschaft und den türkischen Nationalismus stärkte und damit die Interessen seiner Wählerschaft bediente. Zu Beginn seiner Amtszeit verfolgte Erdoğan einen pro-europäischen Kurs, den er änderte, nachdem sich die Hoffnungen auf einen EU-Beitritt seines Landes nicht erfüllten.
Wandel zum Autokraten
Erdoğans Regierungsstil veränderte sich. 2013 ließ er die regierungskritischen Gezi-Park-Proteste niederschlagen. 2014 wurde Erdoğan Staatspräsident. Nach dem gescheiterten Putschversuch von Teilen des Militärs 2016 wurden zehntausende Menschen festgenommen und viele Staatsbedienstete wie Richter und Staatsanwälte verloren ihre Jobs. Der Präsident regierte zunehmend autokratisch. 2018 wurde durch ein Verfassungsreferendum die Rolle des Präsidenten umfassend gestärkt und das Parlament weitgehend entmachtet.
Spürbare Wechselstimmung
Die wirtschaftliche Lage ist mittlerweile zum größten Problem für Erdoğan geworden. Die Türkei leidet unter einer rasenden Inflation, die zeitweise 85 Prozent erreichte. Die türkische Lira verlor in den vergangenen fünf Jahren 80 Prozent an Wert. Die Kaufkraftverluste sind enorm. Weite Teile der türkischen Mittelschicht konnten ihren Wohlstand nicht halten. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei 19 Prozent. Als eine Ursache für den wirtschaftlichen Abschwung gilt die langjährige Niedrigzins-Politik Erdogans, die einst zum wirtschaftlichen Erfolg beitrug. Vor allem die wirtschaftliche Entwicklung schwächt Erdoğans Popularität. Hinzu kommen Kritik aufgrund seines autokratischen Führungsstils und der Vorwurf nach dem verheerenden Erdbeben im Februar zu spät und nicht entschlossen genug gehandelt zu haben. Vor allem unter jungen Türkinnen und Türken sind Erdoğans Beliebtheitswerte niedrig. Das Abstimmungsverhalten der rund sechs Millionen Erstwählerinnen und Wähler könnte den Ausgang entscheidend mit beeinflussen.
Herausforderer in Umfragen vorne
Die Opposition tritt mit einem Bündnis aus sechs Parteien und dem Spitzenkandidaten Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratischen CHP an. Der 74-Jährige galt lange als blass und uncharismatisch, hat aber im Wahlkampf an Popularität gewonnen. Er präsentiert sich als Anti-Erdoğan, will eine Kurswende in der Wirtschaftspolitik einleiten, das Präsidialsystem abschaffen, die Freiheitsrechte stärken und inhaftierte Regierungsgegner freilassen. In Umfragen lag Kılıçdaroğlu als Präsidentschaftskandidat zuletzt meist vor Erdoğan. Gelingt keinem der Kandidaten, neben Kilidaroglu und Erdoğan tritt noch ein chancenloser Mitbewerber an, im ersten Wahlgang eine 50-Prozent-Mehrheit, wird eine Stichwahl nötig.
Was würde sich außenpolitisch ändern?
Kommt es zum Machtwechsel, wird das voraussichtlich zunächst vor allem innenpolitische Folgen haben. Die türkische Außenpolitik dürfte unter einem Präsidenten Kılıçdaroğlu berechenbarer werden und weniger von schrillen nationalistischen Tönen und Versuchen geprägt sein, sich als Vermittler in internationalen Konflikten zu engagieren. Zur Belastungsprobe im Verhältnis zur EU könnten Kılıçdaroğlus Pläne zur Rückführung von rund vier Millionen syrischen Flüchtlingen in deren Heimat sein. Viele der Betroffenen könnten versuchen, illegal in die EU zu kommen. Insgesamt hat Kılıçdaroğlu sein Interesse an guten Beziehungen zur EU und eine stärkere Westbindung angekündigt. Erwartet wird auch, dass nach einer Abwahl Erdoğans der türkische Widerstand gegen einen Nato-Beitritt Schwedens endet.
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