Infostand der AKP in München
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Infostand der AKP am Stachus in München

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Risse in der türkischen Community: Für oder gegen Erdoğan?

In der Türkei wird heute gewählt. Wird Präsident Erdoğan weiter an der Macht bleiben oder schafft es die Opposition um Kemal Kılıçdaroğlu? Auch viele Türken in Deutschland blicken gespannt auf die Wahl. Doch es geht ein Riss durch die Community.

Über dieses Thema berichtet: Die BR24 Reportage am .

Der in Parsberg in der Oberpfalz geborene Boxer Ünsal Arık teilt gerne aus - nicht nur im Ring, sondern auch gegen den türkischen Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Bei seinen Kämpfen trägt er T-Shirts mit Slogans gegen Erdoğan wie "Dieses Land gehört Atatürk, nicht Tayyip". Mustafa Kemal Atatürk war der säkulare Gründer der modernen Türkei. Tayyip ist der Vorname des Präsidenten. In den sozialen Medien kritisiert der Sportler den Präsidenten in Rap-Songs. In einem Video, das auf Youtube zu sehen ist, nennt er den Mann, der seit rund 20 Jahren an der Macht ist, einen "Dieb" und "Feind der Republik", dem er "ein Grab schaufeln" werde.

"Wenn Erdoğan gewinnen sollte, ist die Türkei für mich für immer zu"

Derzeit kann Ünsal Arik nicht in die Türkei einreisen – zu groß wäre die Gefahr, dass er noch an der Grenze festgenommen werden würde. Es gibt mehrere Anklagen gegen ihn, auch wegen des Videos auf Youtube. "Das ist die heikelste Anklage“, sagt der 42 Jahre alte Sportler bei einem Treffen in Berlin. "Ich habe große Angst, wenn Erdoğan die nächste Wahl gewinnen sollte, dann ist Türkei für mich für immer zu. Dass ich in die Türkei nicht fahren kann, das zerreißt mich, weil ich kann das Grab meiner Mutter nicht besuchen."

Inzwischen wurden weitere Anklagen erhoben – wegen eines neuen Videos, das der Sportler in den sozialen Medien veröffentlicht hat. Ziel seiner Kritik: erneut Erdoğan. Viele Anhänger des türkischen Präsidenten beschimpfen Ünsal Arik als Vaterlandsverräter und bedrohen ihn. Zeitweise stand der Boxer unter Polizeischutz. Auf Veranstaltungen geht er nur noch mit Security. Eigentlich sollte das Interview in der Trainingshalle stattfinden, doch der Boxer lehnte kurzfristig ab. Seine Halle, in der er üblicherweise trainiert, ist gerade geschlossen, woanders will Ünsal Arık auf keinen Fall hin. "Dadurch, dass ich in der Vergangenheit schon viele Angriffe hatte, auch körperliche, seien es Messerattacken, Patronenhülsen auf meinem Auto oder die Hausbesuche – ich will einfach nichts provozieren", sagt er. "Weil ich weiß, wie meine Landsleute ticken, sie sind crazy, sie sind verrückt, und sie sind bereit, für Erdoğan zu sterben und auch zu töten.“

Spaltung in der türkischen Community

Es gibt eine Spaltung in der türkischen Community in Deutschland – Unterstützer von Erdoğan auf der einen Seite, Erdoğan-Gegner auf der anderen. Kurden, Aleviten, Kemalisten, Nationalisten, Graue Wölfe und Anhänger des im amerikanischen Exils lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Erdoğan für den Putschversuch im Jahr 2016 verantwortlich macht. Oft sind die Fronten verhärtet. Doch die Erdbeben-Katastrophe im Februar habe die Unterschiede in den Hintergrund rücken lassen, meint zumindest Ufuk Sayın. Der Mediengestalter und DJ aus Augsburg hat nach dem verheerenden Erdbeben im Februar mit mindestens 50.800 Toten wochenlang Hilfsgütern gesammelt und verpackt.

"Diese Spaltung gibt es natürlich auch in Augsburg, das ist schon klar. Aber die Fokussierung ist jetzt gerade das Erdbeben in der Türkei. Und da zählt nicht das Politische, die politische Meinung, das ist mir egal.“ Zusammen mit anderen Freiwilligen hat Sayın Hilfsgüter gepackt, sortiert und Lastwagen beladen, die in die Türkei gebracht wurden. "Ich habe da nicht gefragt, ob der Kurde ist oder Alevite oder Gülen-Bewegung-Anhänger ist."

Viele Medien unter der Kontrolle der Regierung

Die Spaltung spiegelt sich auch in den Medien wieder. In vielen türkischen Haushalten in Deutschland läuft der staatliche Fernsehsender TRT – Präsident Erdoğan ist dort omnipräsent. Die ehemalige Schuhverkäuferin Inciser kommt jede Woche in die Frauengruppe der Initiativgruppe Interkulturelle Begegnung und Bildung in München. Hier treffen sich weit über 70-jährige Frauen, die einst als Gastarbeiterinnen nach Deutschland gekommen sind. Inciser schaut lieber deutsches als türkisches Fernsehen, erzählt sie. "Wenn ich türkische Nachrichten verfolge, regt mich das sehr auf." Über ein und dieselbe Nachricht werde teils komplett unterschiedlich berichtet, je nachdem welchen Sender man anschaue. "Und ich weiß nicht, welchen soll ich glauben?" Ein Großteil der türkischen Medien steht unter der Kontrolle der Regierung oder regierungsnaher Unternehmer. Viele oppositionelle Journalisten sitzen im Gefängnis oder sind angeklagt. Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht die Türkei auf Rang 165 von 180.

"Es geht um alles oder nichts"

Treffen mit Tuncay Acar in der Glyptothek in München. Tuncay Acar kam 1968 in München als Sohn türkischer Gastarbeiter zur Welt. Er ist studierter Archäologe, arbeitet aber als Künstler, Musiker und Blogger. Gemeinsam betrachten wir Skulpturen, Mosaike und Reliefs der griechischen Klassik. Die griechische Antike gilt als Wiege der Demokratie - und das Gebiet der heutigen Türkei gehörte dazu. Wie geht es mit der Demokratie in der Türkei weiter? "Es geht um alles oder nichts", sagt der Künstler. "Es geht darum: Wollen wir in einem demokratischen Land mit einer demokratischen Verfassung weiterleben oder geben wir das jetzt auf? Und diese Frage erwartet noch einige Länder auf dieser Welt. Genau dieselbe Frage stellt sich in der Türkei jetzt auch."

Wahlberechtigte Türken in Deutschland konnten bereits ihre Stimme abgegeben. Heute sind nun in der Türkei rund 64,3 Millionen Wahlberechtigte - darunter sechs Millionen Erstwähler - zur Stimmabgabe aufgerufen. Neuer Präsident wird, wer im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen erringt. Schafft dies keiner der Kandidaten, treten die zwei Bestplatzierten zwei Wochen später in einer Stichwahl gegeneinander an. Für Erdoğan wird es so eng wie nie zuvor. Kemal Kılıçdaroğlu hat fast die komplette Opposition hinter sich vereint und liegt je nach Umfrage zwischen zwei und zehn Prozentpunkten vorn.

Die Spannung steigt: Viele Türkinnen und Türken hierzulande beobachten mit Interesse und teilweise auch mit großer Sorge die Wahlen, die viele Beobachter 100 Jahre nach der Gründung der Republik Türkei als Schicksalswahl über die Zukunft der Demokratie in dem Land sehen.

Zum Video: Die Umfragewerte Erdoğans sind so schlecht wie lange nicht

Ein Wahlplakat mit dem Gesicht von Präsident Erdogan
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Türkei

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