Im vergangenen Jahr war der Neustart der transatlantischen Beziehungen das große Thema auf der Münchner Sicherheitskonferenz. US-Präsident Joe Biden verkündete auf dem digitalen Treffen 2021, dass Amerika zurück sei - dass es nun wieder Zusammenarbeit und Solidarität der Partner geben würde. Wohl kaum einer hätte gedacht, wie präsent dieses Thema nur ein Jahr später werden würde.
Das diesjährige Treffen in München wurde vom Russland-Ukraine-Konflikt dominiert, von Betonungen der Verbundenheit und von Warnungen an die Putin-Regierung. Russland hatte erstmals seit Jahren keine Regierungsvertreter nach München entsandt. Damit wurde viel über, aber nicht mit Russland gesprochen.
Erkenntnisse von der 58. Münchner Sicherheitskonferenz:
1. Angst vor Krieg in Europa
Von Zeichen der Entspannung, die es kurzzeitig zu Wochenmitte im Russland-Ukraine-Konflikt gegeben hatte, war in München nichts mehr zu spüren. In den Beiträgen auf der Sicherheitskonferenz wurde vehement vor der Kriegsgefahr gewarnt.
Die USA halten einen Angriff Russland auf die Ukraine weiter für wahrscheinlich. Die Putin-Regierung arbeite daran, einen Vorwand für eine Aggression zu schaffen, erklärte US-Vizepräsidentin Kamala Harris. "Russland wird so tun, als wäre man unschuldig." In Washington hatte US-Präsident Joe Biden zuvor erklärt, dass er einen Angriff in den "kommenden Tagen" erwartet.
- Zum Artikel: Biden erwartet russischen Ukraine-Angriff in "kommenden Tagen"
Auch Bundeskanzler Olaf Scholz sieht nach wie vor eine Kriegsgefahr. "Es geht um nichts Geringeres als den Frieden in Europa", erklärte er in seiner Rede in München. Außenministerin Annalena Baerbock sagte: "Die russische Bedrohung ist weiterhin real". UN-Generalsekretär António Guterres erklärte ebenfalls, dass er die Entwicklung mit großer Sorge betrachte.
Einen Einsatz US-amerikanischer Truppen in der Ukraine schloss US-Vizepräsidentin Harris weiter aus. Zugleich verstärkten die USA ihre Truppenpräsenz in Polen, Rumänien und Deutschland. "Unsere Truppen werden nicht geschickt, um in der Ukraine zu kämpfen, aber um jeden Zentimeter des NATO-Territoriums zu verteidigen", erklärte Harris.
2. Drohungen Richtung Moskau – und Aufrufe zum Dialog
Weitere mögliche Sanktionen gegen Russland kamen zur Sprache. Baerbock drohte Russland mit "präzedenzlosen Sanktionen" im Falle eines Angriffs auf die Ukraine. Deutschland sei bereit, dafür auch einen hohen wirtschaftlichen Preis zu zahlen. Dazu gehöre auch die Ostsee-Gaspipeline Nord Stream 2.
Ähnlich äußerte US-Vizepräsidentin Harris. Sie sprach von "nie dagewesenen" Sanktionen, sollte Russland in die Ukraine einmarschieren. Dazu zählten auch finanzielle Sanktionen. Großbritanniens Premier Boris Johnson kündigte Konsequenzen am Finanzplatz London an, sollte es einen russischen Einmarsch in die Ukraine geben. Charles Michel, Präsident des Europäischen Rates, sagte: "Wenn es weiter militärische Aggressionen gibt, werden wir mit massiven Sanktionen reagieren."
Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj hat weitere Sanktionen gegen Russland bereits vor einem möglichen Einmarsch erneut gefordert. Damit stieß er aber kaum auf Gehör. Nach Einschätzung von Prof. Stephan Bierling, Experte für transatlantische Beziehungen an der Universität Regensburg, sei es dafür zu früh, wenn die westlichen Partner Russland noch einen Weg ausweisen wollen.
Dieser Weg solle eine friedliche Lösung des Konflikts sein. Baerbock warnte Russland vor einer Invasion: "Machen Sie diesen Fehler nicht", sagte sie in Richtung Moskau. NATO-Generalsekretär Stoltenberg forderte Russland auf, seine Truppen von der Grenze abzuziehen.
Neben den Drohungen betonten alle, sie seien zum Dialog bereit. Harris erklärte, dass ihr Land weiter offen für eine diplomatische Lösung des Konflikts sei. Stoltenberg sagte, dass die NATO weiter für Gespräche bereitstehe. Für Russland sei es nicht zu spät, vom Abgrund zurückzutreten und eine friedliche Lösung zu wählen.
Bundeskanzler Scholz äußerte ebenfalls die Hoffnung, den Konflikt friedlich lösen zu können. "So viel Diplomatie wie möglich, ohne naiv zu sein - das ist der Anspruch", sagte Scholz.
3. Die westlichen Staaten betonen Geschlossenheit
Vor nicht allzu langer Zeit wurde Zukunft und Sinn der NATO infrage gestellt. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bezeichnete das Bündnis gar als "hirntot". Durch den Konflikt im Osten Europas scheint die NATO nicht nur stark an Bedeutung gewonnen zu haben – die Beteiligten sprachen von einem neuen Maß an Solidarität.
"Wenn das Ziel des Kreml ist, weniger NATO an den Grenzen zu haben, bekommen sie mehr NATO. Wenn sie die NATO spalten wollen, bekommen sie eine umso stärkere, geeinte NATO", erklärte beispielsweise NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg. "Ganz klar: Es gibt keine NATO Mitglieder erster und zweiter Klasse im Westen und Osten. Wir werden immer einander schützen und verteidigen."
Scholz versicherte ebenfalls Geschlossenheit im Falles eines Angriffs auf einen NATO-Partner. "Deutschland steht zur Garantie des Artikels 5 – ohne Wenn und Aber". Bayerns Ministerpräsident Markus Söder beschrieb die NATO als "aktueller denn je", sie gebe "Schutz, Halt und Kraft". Von der Leyen lobte die enge Partnerschaft zwischen EU und NATO.
US-Außenminister Blinken betonte ebenfalls die Bedeutung einer gemeinsamen westlichen Herangehensweise. Der russische Präsident Wladimir Putin sei überrascht von der Solidarität der transatlantischen Partner gewesen, so Blinken. "Das wollen wir weiter aufrecht erhalten".
NATO-kritische äußerte sich der chinesische Außenminister Wang Yi. Wang, der Video zugeschaltet war, erklärte: "Die NATO war ein Produkt der Zeit des Kalten Krieges. Jetzt muss man die Gegenwart betrachten, es muss eine Anpassung der NATO geben." Konkret richtete sich Wang gegen eine Ost-Erweiterung des Militärbündnisses. Die Europäer müssten sich fragen, ob dies dem Frieden auf dem Kontinent dienlich sei.
4. Emotionale Appelle von Selenskyj und Klitschko
Zwar waren keine Regierungsvertreter Russlands da, dafür aber einige Repräsentanten der Ukraine. Diese richteten sich mit deutlichen Worten an die Mitgliedsstaaten in NATO und EU.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj sagte, dass die ukrainische Armee das Land mit oder ohne internationale Hilfe gegen Russland verteidigen werde. Dabei kritisierte er mangelnde Unterstützung: "Wir werden vergessen." Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko sagte: "Wir brauchen Unterstützung. Keine Angriffswaffen – sondern zur Verteidigung. Wir müssen unser Land verteidigen".
Selenskyj forderte in seiner Rede eine ehrliche Antwort von der NATO, ob sein Land überhaupt Mitglied werden könnte. "Wenn uns nicht alle da sehen wollen, seid ehrlich." Und weiter: "Offene Türen sind gut, aber wir brauchen ehrliche Antworten." Niemand solle daran denken, dass die Ukraine ein permanenter Puffer zwischen dem Westen und Russland bleibe. In Richtung NATO und EU appellierte er: "Helft uns".
5. Frauen auf der Sicherheitskonferenz
45 Prozent aller Redner auf den Podien auf der diesjährigen Sicherheitskonferenz waren Frauen. Sowohl Wolfgang Ischinger, Leiter der Konferenz, als Christoph Heusgen, sein designierter Nachfolger, haben als Ziel ausgegeben, den Anteil in den nächsten Jahren auf mindestens 50 Prozent zu steigern. "Wir sind überzeugt, in Zukunft hier noch besser zu werden", sagte Ischinger zum Abschluss der Konferenz.
Dass es im Publikum und auf den Gängen des Bayerischen Hofs nach wie vor einen deutlichen Männerüberschuss gibt, bedauerte Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze im BR-Interview. "Ich würde mir wünschen, dass noch viel mehr Frauen auch hier zu dieser Sicherheitskonferenz kommen", so Schulze. "Sicherheit ist inzwischen ein Thema, das lange nicht mehr nur Männer angeht."
Für Aufsehen sorgte zudem ein Foto, das ein Treffen von Wirtschaftsbossen beim Business-Lunch auf der Sicherheitskonferenz zeigen soll. Darauf zu sehen ist großer u-förmiger Tisch mit rund 30 Männern – und keiner einzigen Frau.
6. Die Rolle Ischingers
Ischinger stand im Vorfeld der Konferenz im Fokus. Vorwürfe wurden laut, wonach der 75-Jährige das vermeintliche "Ehrenamt" des Konferenzvorsitzenden, wie er es bezeichnet, zum eigenen finanziellen Vorteil genutzt haben soll. Laut einem "Spiegel"-Bericht zeigen vertrauliche Dokumente, wie Ischingers Beratungsfirma an der Sicherheitskonferenz verdiente und bei Geschäften mit einer Firma für Rüstungselektronik vermitteln wollte.
Ischinger selbst wies die Vorwürfe im BR-Interview zurück und bezeichnete sie als "vollkommen abwegig": "Ich habe von der Münchner Sicherheitskonferenz persönlich überhaupt nicht profitiert. Seit 14 Jahren hat sich das zu einem absoluten Fulltime-Job entwickelt und ich mache das ehrenamtlich." Er bekomme eine Aufwandsentschädigung, aber kein Gehalt.
Die Organisation Transparency International hat mit scharfen Worten auf die Anschuldigungen gegen Ischinger reagiert. "Die Vorwürfe sind ernst. Und sie sollten von der MSC ernst genommen werden", sagte der CEO der Nichtregierungsorganisation, Daniel Eriksson, dem Bayerischen Rundfunk.
Ischingers Nachfolger Wolfgang Heusgen müsse sicherstellen, "dass er ein höheres Maß an Integrität an den Tag legt und dafür sorgt, dass Interessenkonflikte mit der Münchner Sicherheitskonferenz der Vergangenheit angehören".
"Hier ist Bayern": Der BR24 Newsletter informiert Sie immer montags bis freitags zum Feierabend über das Wichtigste vom Tag auf einen Blick – kompakt und direkt in Ihrem privaten Postfach. Hier geht’s zur Anmeldung!