Wenn in einer Parteizentrale kurzfristig ein Pressetermin anberaumt wird, steckt oft mehr dahinter. So war es auch an diesem Montagnachmittag in Berlin. Die SPD-Spitze lud in aller Eile die Hauptstadtjournalisten zu einem Statement im Willy-Brandt-Haus ein. Zu diesem Zeitpunkt machte schon ein Brief von Kevin Kühnert die Runde, in dem er seinen vorläufigen Rückzug aus der Bundespolitik bekanntgab.
Der bisherige SPD-Generalsekretär begründet seine Entscheidung mit gesundheitlichen Problemen: "Die Energie, die für mein Amt und einen Wahlkampf nötig ist, brauche ich auf absehbare Zeit, um wieder gesund zu werden." Vor der kommenden Bundestagswahl müssten alle in der Partei "über sich hinauswachsen". Ihm aber sei dies derzeit verwehrt, weshalb er das Amt aufgebe und auch bei der kommenden Wahl nicht mehr als Bundestagsabgeordneter antrete. Einzelheiten zu seiner Erkrankung nennt Kühnert in der schriftlichen Erklärung nicht.
SPD-Spitze würdigt Kühnerts Leistungen
Auch die Parteispitze hält sich in diesem Punkt zurück. Co-Chefin Saskia Esken sagt lediglich, sie wünsche Kühnert "die notwendige Ruhe, damit er wieder gesund werden kann". Die zurückliegende Zusammenarbeit mit dem 35-Jährigen nannte Esken vertrauensvoll. "Für all das will ich heute aus vollem Herzen Danke sagen."
Eskens Aufstieg an die SPD-Spitze ist eng mit Kühnerts Namen verknüpft. Im Jahr 2019 spielte er – damals noch Vorsitzender der SPD-Parteijugend – eine wichtige Rolle bei ihrer Wahl zur Co-Chefin der Sozialdemokraten. Beide gehören zum linken Flügel der Partei.
Klingbeil zu Kühnert-Rückzug: "Politik ist nicht alles"
Auch Co-Parteichef Lars Klingbeil würdigt die Leistungen von Kühnert. Wer den zurückgetretenen Generalsekretär kenne, wisse, wie viel Engagement er in die politische Arbeit gesteckt habe. Für Klingbeil ist es dennoch die richtige Entscheidung, denn: "Politik ist nicht alles." Es gehe jetzt um Kühnert – und um dessen Gesundheit.
Allerdings stand der Berliner in letzter Zeit politisch unter Druck. Kritiker machten ihn für das schlechte Abschneiden der SPD bei der Europawahl mitverantwortlich. Und dass die Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen nur einstellige Ergebnisse holten, wird auch auf mangelnden Rückenwind aus Berlin zurückgeführt.
SPD-Fraktion offenbar überrascht von Kühnerts Entscheidung
Dennoch sieht es nicht danach aus, dass solche Erwägungen Kühnert zum Rückzug bewogen hätten. Die Vorsitzende der bayerischen Landesgruppe in der SPD-Fraktion, Carolin Wagner, sagt im BR24-Gespräch: "Das war eine überraschende Meldung." Sie wünsche Kühnert alles Gute. Die Regensburger Abgeordnete weist aber auch darauf hin, dass der Zeitpunkt eine gewisse "Brisanz" mit sich bringe.
Damit spielt die SPD-Politikerin auf den anstehenden Bundestagswahlkampf an. Und auf die Ungewissheit, wann dieser zu führen sein wird. Angesichts der Ampel-Konflikte über den Haushalt oder die Rentenpolitik halten manche in Berlin einen vorzeitigen Bruch des Regierungsbündnisses für denkbar. Sollte es so kommen, bliebe der Kanzlerpartei nur wenig Zeit, um aus dem Umfragetief zu kommen.
Im Video: BR-Korrespondent Mario Kubina zum Rücktritt von Kevin Kühnert
Parteiübergreifendes Lob für Kühnert
Für den Moment richten sich in Berlin noch alle Blicke auf Kühnert. Auch aus anderen Parteien kommt viel Zuspruch. Keine Selbstverständlichkeit bei einem Job, der die Bereitschaft zu Streit und Zuspitzung erfordert. Die ebenfalls scheidende Doppelspitze der Grünen reagiert "schockiert" auf Kühnerts Entschluss. Omid Nouripour spricht von einer "traurigen Nachricht". Ricarda Lang schreibt auf X, Kühnert sei "einer der klügsten und schlagfertigsten Politiker, die ich kennenlernen durfte".
Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP wünscht Kühnert in dem Onlinedienst "von Herzen alles Gute und eine vollständige Genesung". Und der CDU-Abgeordnete Jan-Marco Luczak – wie Kühnert aus Berlin – schreibt ebenfalls auf X: "So sehr uns politisch auch Welten trennten, hab ich immer respektiert und anerkannt, dass er wie ich für die Politik brennt."
Miersch soll Kühnert folgen
Jetzt also braucht die SPD einen anderen, der vollen Einsatz für die Partei zeigt. Eine Herausforderung, denn ungeachtet der Kritik gilt Kühnert als eine der zentralen Integrationsfiguren der Sozialdemokratie.
Am Abend wird bekannt, dass der stellvertretende SPD-Fraktionschef Matthias Miersch die Nachfolge antreten soll. Der Vorschlag der Parteivorsitzenden Esken und Klingbeil sei auf einstimmige Zustimmung im SPD-Präsidium gestoßen, ist aus Parteikreisen zu hören. Miersch wird wie Kühnert dem linken Flügel der SPD zugerechnet und hat sich in Berlin als Fachpolitiker für Energie- und Klimafragen einen Namen gemacht. Mit ihm dürfte sich auch die Hoffnung der Parteispitze verbinden, in der Ampel-Koalition mehr "SPD pur" durchzusetzen.
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