Mit bis zu 400.000 Asylanträgen würden Experten in diesem Jahr rechnen – das sagte jüngst der bayerische Ministerpräsident und CSU-Chef Markus Söder. Aus seiner Sicht ist Integration damit nicht mehr leistbar. Söder forderte deshalb einen "Deutschlandpakt" gegen ungeregelte Migration und eine Integrationsgrenze. Dafür schlug ihm viel Kritik entgegen, unter anderem von SPD-Chef Lars Klingbeil. Er erhielt aber auch Zuspruch, zum Beispiel von der Schwesterpartei CDU. Wie angespannt ist die Situation derzeit im Vergleich zu den vergangenen Jahren? Was sind die Gründe dafür? Und was würde eine Obergrenze bringen? Hier einige Fragen und Antworten.
Wie angespannt ist die Lage?
Vor kurzem haben bayerische Landrätinnen und Landräte einen Appell an die Bundesregierung gerichtet: Die Kapazitäten, um Flüchtlinge unterzubringen und zu versorgen, seien vielerorts erschöpft. Auch Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) blickt "sehr alarmiert auf die Zahlen", wie sie im Interview mit der ARD sagte. In diesem Jahr wurden bisher deutlich mehr Asylanträge gestellt als 2022, von Januar bis August waren es laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) mehr als 204.000 Erstanträge. Das sind dem BAMF zufolge rund 77 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum 2022. Zum Vergleich: Im gesamten vergangenen Jahr wurden rund 217.000 Erstanträge gestellt, 2021 etwa 148.000 Anträge.
Nach absoluten Zahlen wurde heuer bisher in keinem anderen EU-Land so oft Asyl beantragt wie in Deutschland, rund 162.000 Erstanträge waren es im ersten Halbjahr gemäß Daten der Asylagentur der Europäischen Union (EUAA); mit jeweils weitem Abstand folgen Spanien, Frankreich, Italien und Österreich. Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl (Anträge pro 1.000 Einwohner) liegt Zypern an der "Spitze" – vor Österreich, Estland und Deutschland. Insgesamt gingen laut EUAA auch in der Europäischen Union die Gesamt-Antragszahlen stark nach oben, das Plus beträgt demnach 28 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Dazu kommen die Geflüchteten aus der Ukraine, die hierzulande wegen einer im vergangenen Jahr aktivierten Sonderregel keinen Asylantrag stellen müssen. Im Moment halten sich laut Ausländerzentralregister etwas mehr als eine Million ukrainischer Kriegsflüchtlinge in Deutschland auf. Teilweise kommen sie bei Bekannten und Helfern unter; viele sind aber auch in Gemeinschaftsunterkünften von Städten und Gemeinden untergebracht.
Was wurde aus der Obergrenze von damals?
Angesichts der sehr hohen Migrationszahlen ab Mitte des Jahres 2015 sorgte der damalige CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer bis in das Jahr 2017 hinein für eine lange, teils heftig geführte Debatte, als er eine Obergrenze von 200.000 Flüchtlingen pro Jahr vorschlug. Am Ende kam es zu einer politischen Einigung. Nämlich, "dass man versucht, durch Steuerungen insbesondere beim Familiennachzug, den man dann eingeschränkt hat, dazu beizutragen, dass nicht mehr als 200.000 Menschen kommen", wie Migrationsexperte Constantin Hruschka vom Max-Plank-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik in München rückblickend sagt.
Hruschka betont jedoch: Es habe damals keine formale Obergrenze gegeben. Das habe deshalb politisch funktioniert, weil es bereits ab Mitte 2016 einen deutlichen Rückgang der Flüchtlingszahlen in ganz Europa gegeben habe. "Das hat aber mit innenpolitischen Maßnahmen mehr oder minder gar nichts zu tun gehabt."
Warum gingen die Flüchtlingszahlen von 2016 an nach unten?
Der Jurist und Migrationsexperte Hruschka nennt als Gründe für den damaligen Rückgang weltweite Entwicklungen. Vor allem sei für die Versorgung syrischer Flüchtlinge in der Türkei und anderen Aufnahmeländern in der Nähe Syriens wieder mehr Geld bereitgestellt worden, so Hruschka. Dadurch habe sich die Situation der Geflüchteten vor Ort verbessert. Als Folge davon hätten sich weniger Menschen auf den Weg nach Europa gemacht.
Außerdem trug Hruschka zufolge der damalige Deal mit der Türkei insgesamt zur Reduktion der Flüchtlingszahlen bei. In den Jahren seit 2020 erschwerten schließlich die Corona-Pandemie und die weltweiten Reisebeschränkungen die Migration; die Flüchtlingszahlen sanken weiter.
Wäre eine Obergrenze rechtlich möglich und sinnvoll?
Die Forderung Söders nach einer Ober- oder Integrationsgrenze wird teils scharf kritisiert. Der bayerische FDP-Landeschef Martin Hagen nennt sie "nicht praxistauglich" und fragt: Was passiere, "wenn der 200.001ste Migrant an unserer Grenze steht – hat der dann keinen Anspruch auf Asyl?" Ein ähnliches Beispiel bringt Wiebke Judith von der Nicht-Regierungsorganisation Pro Asyl. Sie bezeichnete Söders Vorschlag in der "Stuttgarter Zeitung" und den "Stuttgarter Nachrichten" als "unrealistisch und menschenrechtswidrig". Die 200.001ste Person könnte ja jemand sein, der aus Syrien geflohen ist und in Deutschland Familie hat. "Diese Person hat ein Recht auf Schutz", sagte Judith.
Die rechtlichen Grundlagen für Asyl und Flüchtlingsschutz im Grundgesetz und in internationalen Vereinbarungen sehen ein individuelles Recht auf Schutz vor. Das heißt: Einem Flüchtling die Möglichkeit, einen Antrag zu stellen, mit dem Hinweis auf eine Obergrenze zu verweigern, geht rechtlich im Moment nicht. Das betonen Migrationsexperten. Die Frage nach dem Sinn einer Obergrenze geht also mit juristischen Fragen einher.
Markus Söder beschreibt seinen Vorschlag einer Integrationsgrenze aber ohnehin als "Richtwert für unser Land, wie wir glauben, Migration organisieren zu können". Zusätzlich brauche man eine Reihe von Maßnahmen, um die Ziele zu erfüllen. Darunter ein Rückführungsprogramm, Grenzkontrollen an allen deutschen Grenzen und die Veränderung der Sozialstandards, wie Söder nach der Sitzung des Parteivorstands am Montag sagte.
Migrationsexperte Gerald Knaus betonte bei BR24 im BR Fernsehen: Auch Söder wisse, dass man Menschen mit Verweis auf eine Obergrenze nicht abweisen könne. Er hält die Empörung über Söders Vorschlag nicht für sinnvoll. Denn die Integrationsgrenze sei ein Richtwert, sagt auch Knaus. Anders als etwa Pro Asyl sähe Knaus in einer Obergrenze auch Vorteile. Wenn es gelingen würde, meint er, "dass Deutschland 200.000 Menschen Schutz gibt, aber ansonsten Menschen nicht mehr irregulär ins Land kommen, dann wäre dieses Ziel sogar mehr Schutz und weniger irreguläre Migration".
Warum steigen die Flüchtlingszahlen derzeit?
Die Frage, warum wieder mehr Flüchtlinge als in den vergangenen Jahren kommen, lasse sich nicht pauschal beantworten. Die Migrationswege seien unterschiedlich, sagt Petra Bendel, die an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg als Professorin für Politische Wissenschaft den Forschungsbereich Migration, Flucht und Integration leitet.
Es lohnt ein Blick auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge. Mit weitem Abstand wurden die meisten Erstanträge auch 2023 laut BAMF von Syrern gestellt, nämlich bis August knapp 62.000, das sind 30 Prozent aller Anträge. An zweiter Stelle folgen Afghanen mit knapp 36.000 Anträgen. Platz drei der Herkunftsländer geht an die Türkei mit rund 29.000 Anträgen, gefolgt von Irak, Iran und Georgien. In allen genannten Ländern werden nach Ansicht dort aktiver NGOs wie Amnesty International Menschenrechte (teils schwer) verletzt und Oppositionelle beziehungsweise Andersgläubige unterdrückt, in der Türkei etwa hat sich die Situation für die dort lebenden Kurden und Syrer verschärft. Auch die wirtschaftlich-finanzielle Lage gilt in vielen Staaten als sehr schwierig, nicht zuletzt wegen der sehr hohen Inflation.
Für die hohe Zahl afghanischer Flüchtlinge nennt Constantin Hruschka vom Max-Plank-Institut zum Beispiel als eine Begründung, dass man in den direkten Nachbarländer Iran und Pakistan große Probleme habe "eine Aufnahmebereitschaft zu kreieren". Weder mit Pakistan, das in der Grenzregion von den Taliban dominiert sei, noch mit dem Iran ließen sich ähnliche Abkommen schließen wie mit der Türkei. Die Lage der afghanischen Flüchtlinge sei dort sehr schlecht – Push-Faktoren, die dazu beitragen, dass sich viele auf den Weg nach Europa machten.
Die Ursachen für Flucht sind komplex, wie Expertin Bendel erklärt. Einen Königsweg in der Flüchtlings- und Migrationspolitik gebe es nicht. "Die politische Lage in Syrien, Afghanistan, der Türkei, aber auch in anderen Herkunftsländern treibt weiter die Menschen in die Flucht", sagt Bendel. Außerdem harre die Verteilung innerhalb Europas weiter des politischen Willens. In den vergangenen Jahren habe Deutschland in absoluten Zahlen in der EU am meisten Asylanträge entgegengenommen, sagt Bendel. "Im letzten Jahr waren das rund ein Viertel der Erstanträge innerhalb der EU."
Innerhalb der EU wird derzeit über eine Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems (GEAS) verhandelt. Die EU-Innenministerinnen und -minister hatten sich dazu im Juni auf Kernpunkte geeinigt. Zentraler Bestandteil ist, dass Migranten aus Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote von weniger als 20 Prozent bereits an den EU-Außengrenzen geprüft werden sollen. Im Moment diskutieren EU-Kommission, Parlament und die Mitgliedsstaaten über die Details.
- Zum Artikel: Flüchtlingsforscher Knaus wirbt für neuen Deal mit der Türkei
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