Abba Naor, Holocaust-Überlebender, im Interview mit BR-Chefredakteur Christian Nitsche bei "7 Fragen Zukunft"
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Wie wir Hass überwinden können – Ein Interview mit Abba Naor

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Wie wir Hass überwinden können – Ein Interview mit Abba Naor

Wie wir Hass überwinden können – Ein Interview mit Abba Naor

Abba Naor ist 96 Jahre alt, hat das KZ Dachau überlebt. Noch immer wird er nicht müde, seine Geschichte Kindern und Jugendlichen zu erzählen und vor den Gefahren von Hass und Neid zu warnen. Seine Botschaft: Menschlichkeit ist das wichtigste Gebot.

"Wie überlebt man das Böse?" Das wollte BR-Chefredakteur Christian Nitsche von Abba Naor wissen. Der 96-Jährige erzählt im neuen BR24-YouTube Format "7 Fragen Zukunft", was er in seinem Leben gelernt hat, und erinnert an zutiefst menschliche Tugenden und Werte, die zu vergessen wir uns heute als auch in Zukunft nicht leisten können. Ein Auszug aus seinem Appell an die Menschlichkeit:

Christian Nitsche: Herr Naor, es ist uns eine Ehre, Sie bei "7 Fragen Zukunft" zu begrüßen. Wie geht es Ihnen heute?

Abba Naor: Wie es einem alten Mann geht eben. Ich bin zufrieden mit meinem Leben und hoffe, dass es noch lange dauert.

Christian Nitsche: Sie haben das Unvorstellbare überlebt. Gibt es eine Sache, die Sie aus all dem, was Sie erlebt haben, über das Böse gelernt haben?

Abba Naor: Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder ignorierst du den, der dir Böses tut, oder du versuchst herauszufinden, warum. Aber das ist nicht einfach, weil manche Menschen sehr stur sind. Neid – das ist eine gefährliche Krankheit. Ich war niemals neidisch. Ich habe immer versucht zu helfen.

Christian Nitsche: Was bedeutet es für andere, die den Holocaust nicht erlebt haben? Wie wichtig ist es, das Böse, das Sie erfahren haben, für sie greifbar zu machen?

Abba Naor: Ich erzähle ihnen, was Hass bedeutet, was er uns antun kann. Denn letzten Endes leiden wir ja am meisten, wenn wir mit Hass leben. Es ist manchmal nicht leicht, diesen Hass loszuwerden. Aber ich muss sagen: Es ist viel leichter, ohne Hass zu leben.

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Winter 1941/42, Abba Naor (2 v. links) auf dem Weg zu einer illegal eingerichteten Schule im Ghetto Kaunas

Abba Naor wurde 1928 in Litauen geboren. Mit 13 Jahren wurde er in das jüdische Ghetto von Kaunas deportiert, wo sein älterer Bruder erschossen wurde. Seine Mutter und sein jüngerer Bruder wurden nach Auschwitz verschleppt. Naor selbst kam in ein Außenlager des KZ Dachau und überlebte schließlich einen Todesmarsch. Am 2. Mai 1945 wurde er bei Bad Tölz von der US-Armee befreit.

Nach dem Krieg wanderte er mit seinem Vater nach Israel aus, kämpfte im israelischen Unabhängigkeitskrieg und engagiert sich bis heute für die Aufklärung über die Verbrechen des Holocaust.

"Man kann nicht nur mit Hass leben – das frisst einen auf"

Christian Nitsche: Sie kehren immer wieder nach Deutschland zurück, obwohl Sie den Holocaust erlebt haben. Was bedeutet Versöhnung für Sie?

Abba Naor: Ohne Versöhnung kann man nicht leben. Man kann doch nicht nur mit Hass leben – das frisst einen auf. Ich bin ruhiger geworden, genieße das Leben mehr und denke mir manchmal: Schau dich an, du alter Jude. Hunderte Kinder sitzen ruhig da, auch wenn du gar nichts sagst, und hören dir zu. Das hätte ich mir in meinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.

Christian Nitsche: Wenn Sie auf Deutschland blicken, was denken Sie angesichts des Erstarkens des Rechtsextremismus?

Abba Naor: Das liegt in den Händen der Deutschen. Deutschland hat doch ein wunderbares Leben. Es ist genügend für alle da. Warum streiten sie sich?

Christian Nitsche: Sie haben Familie, die Ihnen viel bedeutet, und gleichzeitig viele Angehörige verloren. Was bedeutet Familie für Sie – auch für die Gesellschaft?

Abba Naor: Kinder sind das Schönste, was es gibt. Sie sind unschuldig, aufmerksam, und stellen gute Fragen. Es bereichert mein Leben, mit ihnen zu sprechen. Ich sage den Kindern immer: Ihr lebt in einem Paradies auf Erden. Macht etwas daraus. Denn es gibt keine andere Zukunft als die Kinder.

Welche Rolle spielt die Religion?

Christian Nitsche: Wie sehen Sie die Rolle der Religion in der Zukunft?

Abba Naor: Wenn es die Religion nicht gäbe, dann hätten wir vielleicht keine Kriege. Wer weiß. Wie kann Gott zulassen, dass sich Menschen abschlachten? Wir kommen doch als Gäste auf diese Welt. Warum müssen manche sterben? Warum machen wir nicht das Beste daraus? Es gibt doch so viele Möglichkeiten. Wir sind alle geschaffen aus dem selben Material. Ich bin nur ein Mensch, ich bin keine Religion. Ich habe die Menschheit gewählt. Das reicht mir.

Christian Nitsche: Was ist die wichtigste Botschaft, die Sie Kindern mitgeben möchten?

Abba Naor: Mensch sein. Es ist gar nicht so einfach.

Christian Nitsche: Wie gelingt das?

Abba Naor: Ich erzähle ihnen meine Geschichte, weil sie einzigartig ist. Es ist meine. Und ich will diese Kinder gewinnen. Das ist mein Antrieb.

Christian Nitsche: Herr Naor, vielen Dank für dieses berührende Gespräch.

Das Wichtigste im Leben sei nicht, immer mehr zu wollen, sondern zufrieden zu sein mit dem, was man hat und "wenigstens mit dem nächsten Nachbarn in Frieden leben", sagt Abba Naor. Das gesamte Interview finden Sie auf unserem BR24-YouTube Kanal.

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