"Menschen in Stacheldraht" heißt die 14 Meter breite und fünf Meter hohe Bronzeskulptur in der Gedenkstätte Dachau. Erschaffen hat sie der Bildhauer und Kunstprofessor Nandor Glid (1924 - 1997). Seit der Einweihung im Jahre 1968 hat sich das Mahnmal zu einem internationalen Symbol der Erinnerungskultur entwickelt.
Die Skulptur stand auch viele Jahrzehnte im Mittelpunkt des Geschehens bei den alljährlichen Gedenkveranstaltungen zum Jahrestag der Befreiung, wenn dort die Blumenkränze zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus niedergelegt wurden. In den letzten drei Jahren war dies allerdings nicht der Fall: Nachdem ein großer Riss in einer der Figuren entdeckt wurde, ist die Skulptur von März 2019 bis August 2022 umfassend saniert worden.
"Mahnmal wird gebraucht - heute vielleicht mehr denn je"
Bei der erneuten Einweihung des Mahnmals in der Gedenkstätte Dachau erinnerte Karl Feller, Direktor der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, an die vielen Gefangenen, die in Dachau ihr Leben verloren haben. Das in der Skulptur dargestellte Leid biete dem Betrachter auch heute noch einen emotionalen Zugang, so Feller. Nicht umsonst stehe die gleiche Statue, in etwas kleinerem Format, auch in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. "Dieses Mahnmal wird gebraucht - heute vielleicht mehr denn je."
Bayerns Kultusminister Michael Piazolo (Freie Wähler) hob in seiner Rede die besondere Pflicht der Politik hervor, Gedenk- und Lernorte zu erhalten und stetig weiterzuentwickeln - insbesondere für die Jugend. "Die Opfer des Nationalsozialismus sind nicht und niemals vergessen", so Piazolo.
Zeitzeuge Abba Naor: "Keine einfache Skulptur"
"Was man hier sieht, ist keine einfache Skulptur. Es ist Teil einer Geschichte", sagte der 94-jährige Zeitzeuge Abba Naor bei der Wieder-Einweihung der Skulptur. Der Israeli ist Überlebender des KZ Dachau und Vizepräsident des Comité International de Dachau. Dachau werde "immer ein Begriff bleiben, wo Menschen lernen, was Recht und was Unrecht ist", so der Zeitzeuge.
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Skulptur - Erinnerung und Mahnung zugleich
Das Internationale Mahnmal von Nandor Glid ist auf Initiative des Comité International de Dachau (CID) entstanden. Am Sonntag, dem 29. April 1945, gründeten überlebende Gefangene in Zusammenarbeit mit der amerikanischen Leitung die Organisation CID bereits am Tag der Befreiung.
Am 1. Mai 1945 versammelten sich die ehemaligen Gefangenen auf dem "Appellplatz", um den "Tag der Befreiung, der Freundschaft und Verbrüderung" zu feiern. Auf Transparenten forderten sie: "Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!"
Im einstigen Krematorium richteten Überlebende noch 1945 einen kleinen Gedenkort ein. Zum 20. Jahrestag 1965 kamen über 600 ehemalige Gefangene aus 14 europäischen Ländern an diesen Ort.
1965 erreichte die Organisation CID die Errichtung der Gedenkstätte in der heutigen Form. Die Original-Baracken wurden zwar aufgrund ihres baufälligen Zustandes abgerissen, die Umrisse von 32 Gebäuden wurden in Beton nachgegossen. Die ehemalige Schienenstrecke zwischen dem Dachauer Bahnhof und der Gedenkstätte wurde zum "Weg des Erinnerns".
Zur Realisierung des Mahnmals führte das CID in den Jahren 1959 und 1965 zwei internationale Gestaltungswettbewerbe durch, die der jugoslawische Künstler Nandor Glid mit seinem Entwurf einer großen Mahnmalanlage und einer zentralen Bronzeskulptur gewann. 1968 wurde das Internationale Mahnmal von Glid erstmals enthüllt. Es befindet sich auf dem ehemaligen Appellplatz und besteht aus verschiedenen Elementen, die an das Leiden der Gefangenen erinnern und zugleich die Lebenden mahnen sollen.
Nandor Glid - Holocaust-Überlebender und Kunstprofessor
Der Künstler Nandor Glid wurde 1924 in Subotica in Nordserbien als Sohn eines jüdischen Metzgers geboren. Glid wurde 1944 von den Nationalsozialisten verhaftet - wegen seiner Religion und weil er sich dem Widerstand anschloss. Seine Eltern wurden nach Auschwitz deportiert, sein Cousin Bill Glid kam in das Dachauer Außenlager Kaufering.
Nandor Glid musste in Ungarn Zwangsarbeit leisten und kehrte Ende 1944, nach der Eroberung Szegeds durch die sowjetische Armee, nach Jugoslawien zurück. Hier schloss er sich den Partisanen an und erlebte das Kriegsende schwer verwundet in Zagreb. Nur wenige Familienmitglieder Glids überlebten den Holocaust. Nach dem Krieg studierte Nandor Glid an der Kunsthochschule in Belgrad und wurde Professor an der Universität für Angewandte Kunst. Später wurde er Rektor an der Universität der Künste in Belgrad.
Viele Zeichnungen, Skulpturen und Denkmäler von Nandor Glid rücken das anonyme Leid und den Tod in den Mittelpunkt, bringen aber auch die Hoffnung auf Überleben unter aussichtslosen Bedingungen zum Ausdruck.
Beginn einer umfassenden Sanierung und Neugestaltung der Gedenkstätte
Die Restaurierung markiert den Beginn einer umfassenden Sanierung und Neugestaltung der Gedenkstätte Dachau. Sie soll im nächsten Schritt - mit der Umgestaltung und Instandsetzung der rekonstruierten Baracken - eine Fortsetzung finden.
Der ehemalige Appellplatz in der Gedenkstätte Dachau, in dessen Zentrum die Skulptur steht, ist dreigeteilt. An der Mauer links der Skulptur, auf dem Weg, der in die Zukunft führen soll, befindet sich als Mahnung die Inschrift "Nie wieder" in fünf Sprachen - Hebräisch, Französisch, Englisch, Deutsch und Russisch. Demnächst soll es diese Mahnung als Neuauflage geben in Form eines multimediales Projektes, und zwar in allen Sprachen der Welt.
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