Türkei, Kahramanmaras: Rettungsteams versuchen Überlebende in den durch die Erdbeben zerstörten Gebäuden zu finden (8.2.23)
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Türkei, Kahramanmaras: Rettungsteams versuchen Überlebende in den durch die Erdbeben zerstörten Gebäuden zu finden (8.2.23)

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Zerstörte Häuser bei Erdbeben: "Es hat mit der Bauweise zu tun"

Zerstörte Häuser bei Erdbeben: "Es hat mit der Bauweise zu tun"

Sind Häuser nicht sicher genug gebaut worden? Nach dem Erdbeben in der Türkei und Syrien wurde diese Frage schnell laut. Im Interview mit BR24 verweist die Bauphysik-Professorin Messari-Becker aber auch auf grenzübergreifenden Katastrophenschutz.

Über dieses Thema berichtet: BR24 im BR Fernsehen am .

Die türkisch-syrische Grenzregion ist von einem schlimmen Erdbeben heimgesucht worden. Tausende Menschen starben. Häuser sind massenhaft eingestürzt. Menschen wurden unter den Trümmern verschüttet. Schnell wurden Fragen nach der Erdbebensicherheit der Gebäude laut. BR24-Journalist Andreas Herz hat mit Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin und Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen, gesprochen. Auch darüber, worin mögliche bauliche Fehler bestehen könnten.

BR24: Frau Messari-Becker, im Jahr 1999 gab es zuletzt ein ähnlich verheerendes Erdbeben in der Türkei. Wurden aus der damaligen Katastrophe Schlüsse gezogen?

Auf jeden Fall. Die Türkei hat nach diesem verheerenden Erdbeben neue Bauvorschriften erlassen, neue Vorschriften für erdbebensicheres beziehungsweise erdbebengerechtes Bauen. Die Frage ist natürlich: Wie wurde das umgesetzt? Und ich mache einen großen Unterschied zwischen Neubau, also Gebäude, die nach diesem Erbeben gebaut wurden, und denen, die davor entstanden. Insofern kommt sie auch darauf an, ob es Nachrüstungen im Gebäudebestand gab, die natürlich auch nötig waren. Das ist hier die zentrale Frage.

Und wurden diese neuen Bauvorschriften eingehalten?

Man kann das von hier aus nicht sagen. Ob die Vorschriften alle eingehalten wurden, müssen die türkischen Kolleginnen und Kollegen vor Ort prüfen. Ich glaube, das wird auch getan. Die Frage ist auch, wie es bei Neubauten mit Baugenehmigungen und Bodenuntersuchungen aussieht. Welche Fundamente für Neubauten wurden aus den Ergebnissen dieser Bodenuntersuchungen abgeleitet? Was ich weiß, ist, dass türkische Kolleginnen und Kollegen immer wieder darauf hingewiesen haben, dass Standards eingehalten werden müssen. Das Gebiet ist eine Risiko-Zone für Erdbeben. Und die Risiken wurden 2013 sogar noch nach oben korrigiert.

Man sieht auf Luftaufnahmen, dass Häuser fast komplett intakt sind und das Haus daneben eingestürzt ist. Was ist die Erklärung?

Es hat auf jeden Fall mit der Bauweise zu tun. Bei manchen Gebäuden wurde auf die Ergebnisse des Bodengutachtens reagiert und es wurde entsprechend fundamentiert. Und die Höhe eines Gebäudes hat natürlich auch mit den Schäden zu tun, die nachher auftreten. Es geht auch darum, dass im Falle eines Schadens die Bauteile selber, also die Struktur selber nicht auch noch zum Risiko wird und Bauteile sich verhaken et cetera, sodass ein Einsturz noch begünstigt wird.

In der Türkei gibt es laut Experten sehr viele Schwarzbauten ohne Prüfung. Im Wahlkampf vor drei Jahren hat die türkische Regierung angeboten, diese Schwarzbauten im Nachhinein legalisieren zu lassen. Wie bewerten Sie das?

Das kann ich nicht beurteilen. Aber auch bei einer nachträglichen Legalisierung oder Genehmigung heißt es ja nicht, dass man nicht bestimmte Aspekt noch mal untersucht und noch mal genauer hinschaut. Auch eine nachträgliche Legalisierung ist nicht ein Freifahrtschein.

Wie sicher sind die Gebäude, die nun noch stehen?

Ich würde bei der Flächigkeit dieses Ereignisses und bei der Dramatik auch die stehenden Gebäude evakuieren. Aber man muss sehen: Auch die kritische Infrastruktur ist ja betroffen: die Wasserversorgung, die Elektrizität, Brücken und Straßen und so weiter. Auch ein Flughafen steht ja womöglich auf einer Demarkationslinie. Insofern haben wir es hier nicht mehr nur mit den Gebäuden an sich zu tun, sondern auch mit der gesamten Infrastruktur. Das Know-how dafür ist in der Türkei auf jeden Fall vorhanden, um so nachzurüsten, dass Menschenleben gerettet werden. Die entscheidende Frage ist: Wird das gehört? Werden die Maßnahmen durchgeführt? Haben die Baubehörden angemessen agiert? Das ist aus der Ferne kaum zu beurteilen.

Welche Fehler sehen Sie bei dieser Katastrophe?

Man hätte schon viel früher eine länderübergreifende Strategie für einen besseren Katastrophenschutz erarbeiten müssen – gerade in Regionen, wo schon längst Gebäude stehen und wo die Dichte der Städte sehr hoch ist. Das sind verletzliche Regionen, da hätte man schon viel früher zusammenarbeiten müssen. Bis hin zur Frage: Wie gibt man das Geld aus, das man vorsieht. Es geht um Wissenstransfer, und es geht darum, dass wir nicht nur die Türkei jetzt im Blick haben müssen. Einige europäische Regionen wurden eben in der Risikoskala nach oben korrigiert. Dazu zählt die Türkei. Dazu zählen aber auch die Balkanstaaten und Griechenland. Insofern haben wir es hier mit einer europäischen Aufgabe zu tun, auf Katastrophen besser zu reagieren. Und da hätte es einfach eine länderübergreifende Strategie gebraucht.

Was muss jetzt passieren?

Wichtig ist, dass man hilft und weniger die besserwisserische Sicht einnimmt. Man kann Erdbeben beobachten, man weiß, dass diese Platten sich bewegen, aber man kann nie wirklich voraussagen, wo passiert das genau und mit welcher Stärke und mit welcher Energie, die sich da entlädt. Es sind so viele Menschen gestorben, und ich befürchte, viele werden nur noch tot geborgen werden. Die Rettungsmaßnahmen stehen jetzt im Vordergrund. Wenn man irgendwann die Zeit hat, wird man die Bauaufsichten unter die Lupe nehmen.

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