Eigentlich hat das Buch schon einige Jahre auf dem Buckel: "Drunken Comportment: A Social Explanation" der beiden Autoren Craig Macandrew und Robert B. Edgerton erschien 1969. Der deutsche Psychiater und Autor Jakob Hein hat es nun wiederentdeckt. Seine Übersetzung heißt "Betrunkenes Betragen – eine ethnologische Weltreise".
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Die These, welche die beiden Anthropologen in ihrem Buch aufstellen, lautet grob: Alkohol ist nicht der toxische Enthemmer, als der er immer betrachtet wird. Oder, noch einfacher gesagt: Alkohol ist nicht an allem schuld und damit auch keine Entschuldigung. "Sie belegen eigentlich, dass die These, mit der wir so durchs Leben fahren, falsch ist", sagt Hein im Gespräch mit dem BR, "das Buch ist gespickt mit Beispielen, dass Alkohol Menschen zahmer macht und eben nicht enthemmt."
Schuldunfähig durch Alkohol?
Ein Beispiel: Die Bewohner einer japanischen Insel, auf der es laut der Autoren Konvention ist, dass Betrunkensein mit Friedlichkeit einhergeht. "Diese ganze Gesellschaft würde sich völlig wundern, wenn sie davon hören würde, dass Alkohol und Gewalt angeblich zusammenhängen", sagt Hein.
Natürlich ist Alkohol kein Friedlichkeitsgarant, enthemmtes Verhalten aber eben eher kulturell bedingt und alles andere als ein Automatismus. Die Wahrnehmung in unserer Kultur allerdings ist das überspitzte Gegenteil: Alkohol und dessen vermeintlich enthemmende Wirkung als Entschuldigung waren ein wichtiges Mittel für Kolonialisierung und andere Verbrechen der Menschheitsgeschichte. Bis heute, meint Hein: "Das ist ein Verhalten, das sich in unserer Gesellschaft wiederfindet, wenn etwa Anwälte ihren Klienten womöglich raten: 'Himmel, wenn sie das gemacht haben, dann gehen sie lieber nach Hause und trinken sie noch mal.' Damit sie, wenn die Polizei kommt und Blut abnimmt, schuldunfähig sind oder zumindest vermindert schuldfähig." Gleichzeitig sei die Gewalt in der Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten stark zurückgegangen – und damit auch die Tendenz, Alkohol als Entschuldigung für Fehlverhalten zu verwenden, meint Hein.
"Ab drei Bier hasse ich Menschen"
Ganz ausgestorben ist das Prinzip allerdings nicht: Erst vor wenigen Tagen stimmten angetrunkene Landjugend-Mitlieder bei einem Faschingsumzug in Landsberg "Ausländer raus"-Gesänge an, es laufen Ermittlungen wegen Volksverhetzung. Deren Vorstand entschuldigte sich nachträglich für den Vorfall, niemand in seinem Verein sei "ausländerfeindlich" oder habe mit den Gesängen eine "böse Absicht" verfolgt. Hein hält nicht viel von derlei Entschuldigungen: "Wenn Dinge gesagt werden, die man angeblich nicht sagen möchte, sollte das nicht als Entschuldigung gelten, insbesondere nicht in einem strafrechtlichen Sinne. Es gibt eben Menschen, die haben menschenfeindliche Meinungen. Aber die sollen dann auch dazu stehen. Sie sollen nicht sagen: 'Entschuldigung, ich glaube, ich bin ein Menschenfreund. Aber ab drei Bier hasse ich Menschen, wenn sie eine andere Hautfarbe haben.' Nein, du bist einfach ein Rassist."
"Betrunkenes Betragen – eine ethnologische Weltreise", wiederentdeckt und übersetzt von Jakob Hein erscheint bei Galiani-Berlin.
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