Putins Staatswirtschaft treibt immer neue bizarre Blüten: Bei den Lebensmittel-Discountern von St. Petersburg haben russische Blogger "Coca-Cola" aus Afghanistan entdeckt, angeblich mit dem "Original Taste", wie es auf den abgebildeten Getränkedosen heißt, die dem Markenprodukt täuschend ähnlich sehen. Ärmere russische Konsumenten könnten sich wohl nur noch Softdrinks aus dem Land der Taliban, aus dem Iran oder Georgien leisten, ist dort zu lesen. Der Mittelstand nutze demnach das Cola-Angebot aus Aserbaidschan, Kasachstan und der Türkei und nur noch die "Reichen" könnten sich die Importe aus Polen, Dänemark oder Deutschland leisten. Naheliegender Grund dafür: Die Inflation ist nach Angaben russischer Fachleute deutlich höher als offiziell angegeben - die Rede ist von insgesamt 100 % in den vergangenen fünf Jahren - , außerdem haben Putins Kriegswirtschaft und die Sanktionen des Westens entgegen der Propaganda erhebliche Auswirkungen auf die Versorgungslage.
"Jede vierte Dose Original-Cola, die dieses Jahr in unserem Land verkauft wurde, kommt aus Afghanistan. Die Qualität des Getränks entspricht den besten internationalen Standards und der Preis ist mehr als erschwinglich", verriet der russische Wirtschaftsstatistiker Joseph Goldstein bereits im vergangenen August. Die Produktion in Kabul soll seitdem stetig steigen, was russische Verbraucher mit der Frage quittierten: "Ist das ein Witz?" Immerhin sei der Geschmack besser als der von belarussischer Cola, wussten Eingeweihte zu berichten.
"Werden einen Blick darauf werfen"
Bei einem Treffen mit den Gewinnern eines "Familien-Wettbewerbs" wurde der Präsident denn auch gefragt, wie er den Lebensmittelhandel wettbewerbsfähiger machen wolle, wo die beiden größten Supermarkt-Ketten doch so gut wie keine Konkurrenten hätten. Ein Süßwarenhersteller und ehemaliger Offizier aus der Region Tula südlich von Moskau forderte Putin auf, ein Staatsunternehmen zu gründen, das die "Regeln festlegen" solle, wozu vor allem die Preispolitik gehöre, aber auch die Bevorzugung inländischer Produzenten gegenüber Importeuren.
"Lasst uns das anpacken", zeigte sich Putin begeistert, der den Fragesteller für dessen militärische Vergangenheit lobte: "Wir werden auf jeden Fall einen Blick darauf werfen." Mit dem Ausscheiden westlicher Anbieter habe sich die "Situation russischer Anbieter zwar verbessert", aber Russland habe "noch viel zu tun". Gleichzeitig geißelte Putin bei einem Treffen mit Königsberger Studenten "illegale Handlungen einiger Länder", die zu "komplizierten Lieferketten" führten. Der Präsident ging nicht in die Einzelheiten, aber russische Medien sind voller Berichte über Arzneimittelknappheit und Engpässen bei der Lebensmittelversorgung. Hier und da werden schon "Produktionsschlachten", also Sonderschichten, wie zu kommunistischen Zeiten gefordert.
"Irgendeine Art Discounter"
Alexej Popowischew vom russischen Markenverband reagierte auf Putins Überlegungen mit dem Hinweis, der Staat könne es sich leisten, mit "minimalen Margen" zu wirtschaften. Vermutlich habe der Präsident weniger staatliche Supermärkte im Auge, sondern "eher irgendeine Art von Discounter". Handelsexperte Michail Lachugin stimmte zu: "Es ist unwahrscheinlich, dass der Staat im mittleren Preissegment aktiv werden will, geschweige denn im Premiumsegment. Da fällt mir sofort der staatliche Service-Dienstleister 'Russische Post' ein. Das heißt, diese Idee wurde tatsächlich bereits umgesetzt. Aber so sehr sie sich auch bemühten, die Russische Post entwickelte sich nicht zu einem vollwertigen Unternehmen. Auch der Umbau von Filialen und die Schaffung eigener Marken halfen nicht."
Im liberalen Wirtschaftsblatt "Kommersant" nutzte Kolumnist Dmitri Drise die Gelegenheit, auf die früheren Zustände im staatlich gesteuerten sowjetischen Handel zu verweisen: "In der UdSSR herrschte völliger Mangel an allem. Dies führte dazu, dass einige unternehmungslustige Bürger Waren zum sogenannten Staatspreis in Geschäften kauften und sie dann zum zwei- oder dreifachen Preis verkauften. Oder sogar die Mitarbeiter selbst waren damit beschäftigt, Produkte an der Hintertür oder, wie es damals hieß, 'unter der Ladentheke' zu verkaufen. Dafür wurden sie inhaftiert und bei besonders großem Schaden zur Todesstrafe verurteilt. Aber selbst solche Methoden zur Bekämpfung der Profitgier konnten die Kriminellen nicht wirklich stoppen."
"Also warum nicht?"
Nostalgie-Liebhaber würden sich gut daran erinnern, wie die damaligen Verkäufer auf Beschwerden reagiert hätten: "Auf die Frage, warum ein bestimmtes Produkt nicht vorrätig sei, schlugen sie in der Regel vor, sich nach oben, nach Moskau oder sogar an den Kreml zu wenden. Schließlich sei der Laden in Staatsbesitz, somit sei der Staat dafür verantwortlich." Mit beißender Ironie schreibt Drise: "In Kombination mit [den von Putin wiederbelebten] Sportparaden, Aufmärschen, ideologisch einwandfreien Konzerten und dem Schutz traditioneller Werte im Allgemeinen wird sich der staatliche Handel jedoch recht organisch einpassen. Also warum nicht? Das ist ein durchaus fortschrittlicher und notwendiger Vorschlag eines Unternehmers aus dem Volk."
Passend dazu kam die Meldung, wonach der Kreml mit den Wellpappen-Fabrikanten vereinbart habe, die Preise vorerst "einzufrieren". Landwirtschaftsminister Dmitri Patruschew, Sohn des mächtigen Sekretärs des Sicherheitsrats, soll die Milchproduzenten ebenfalls gewarnt haben, die Preise vor der Präsidentschaftswahl anzuheben. Er hat schon genug Ärger mit der Inflation bei Eiern und Hühnerfleisch.
"Risiken einer erheblichen Bürokratisierung"
Der politische Stratege Sergej Sawerski ist der Ansicht, dass die Politik "definitiv" die Wirtschaft "besiegt" habe, aber das hätten noch nicht alle Führungsebenen verstanden. Der Trend zu staatlichen Eingriffen spiele "fast überall eine immer wichtigere Rolle", so der Ökonom: "Das Problem ist nicht einmal die 'Rückkehr' der Industriepolitik (das ist ein durchaus geeignetes Instrument), sondern die Risiken einer erheblichen Bürokratisierung und künstlichen Einschränkung des Wettbewerbs." Durch immer strengere staatliche Vorgaben bei der Auswahl von Lieferanten und überhaupt allen Kundenbeziehungen werde auf Dauer das "System der internationalen Arbeitsteilung in Frage gestellt" und die Unternehmen gezwungen, alle Produktionsschritte im eigenen Haus zu behalten.
"An sich schon absurd"
Polit-Blogger Anatoli Nesmijan (110.000 Fans) kommentierte, Putin orientiere sich offenbar längst nicht mehr an der Realität, sondern nur noch an Wahlterminen und ähnlichen, für ihn wichtigen Ereignissen: "In einer Marktwirtschaft ist die Forderung, 'die Preise einzufrieren', an sich schon absurd. In einer besonderen Situation kann das vorkommen, in diesem Fall muss jedoch ein Ausgleichsmechanismus vorhanden sein, der den normalen Betrieb des Unternehmens gewährleistet. In Russland gibt es weder das eine noch das andere, und das Regime ist damit offenbar höchst zufrieden. Dass das die Wirtschaft zerstört, stört die Verantwortlichen überhaupt nicht – sie sind nicht gekommen, um etwas voranzubringen, sondern um die Reste zu verwalten."
"Eigentum ist für Diktaturen Grundlage der Sklaverei"
Weil das russische Parlament jüngst ein Gesetz auf den Weg brachte, dem zufolge Regierungskritiker enteignet werden können, meinte Wirtschaftsfachmann Wladislaw Inosemtsew: "In einem freien Land ist Eigentum die Grundlage der Demokratie, in diktatorischen Regimen die Grundlage der Sklaverei." Düster analysierte der als "ausländischer Agent" gebrandmarkte Experte: "Noch vor ein paar Wochen habe ich geschrieben, dass die Behörden wohl nur in Einzelfällen zu Repressionen greifen werden, ohne sie massenhaft anzuwenden. Schließlich ist es nicht dasselbe, sich Millionen Feinde zu machen, wie ein paar Andersdenkende zu unterdrücken. Menschen ihr Eigentum wegzunehmen, ist nicht dasselbe, wie eine bloße Einschränkung der Meinungsfreiheit. Wenn die Behörden bei der unterschiedslosen Unterdrückung konsequent weitermachen, laufen sie Gefahr, mit Herausforderungen konfrontiert zu werden, deren sie sich nicht einmal bewusst sind."
Derweil müssen russische Fluggesellschaften immer mehr Maschinen vorübergehend einmotten, weil sie durch die Sanktionen nicht mehr an ausreichend Ersatzteile kommen: "Die Beschaffung neuer Teile für solche Flugzeuge wird immer langwieriger, aufwändiger und teurer. Besonders schwierig ist die Lage für kleine private Fluggesellschaften." Das sei ein "Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung", wetterte ein systemtreuer Blogger: "Die Sanktionen sind in diesem Fall kein berechtigtes Instrument, sondern eine mörderische Waffe."
"Der Staat wird nicht weglaufen"
Wohin die Reise in Russland ungeachtet aller Versorgungsprobleme ordnungspolitisch geht, machte Wirtschaftspolitiker Wladimir Morosow deutlich: "Jedes soziale Programm in privater Hand bringt einen kritischen Interessenkonflikt mit sich. In der Privatwirtschaft geht es immer und überall um Profit. Das wird von der Geschäftsleitung, den Aktionären und den Investoren gefordert. Als Sozialstaat im Sinne der Verfassung ist der Staat bestrebt, für seine Bürger und deren menschenwürdiges Leben zu sorgen. Er ist nicht verpflichtet, mit allem Geld zu verdienen. Daher kann und sollte sich nur der Staat um Wohnraum und kommunale Dienstleistungen kümmern."
Unfreiwillig komisch wurde Morosow mit seinem Hinweis: "Die Bürger haben in diesem Fall jemanden, den sie fragen können, wenn etwas schief läuft. Der Staat wird nicht weglaufen. Im Gegensatz zu privaten Verwaltungsgesellschaften, die ebenso wie 'Immobilienentwickler' in Mode gekommen sind, ist es für ihn fast unmöglich, bankrott zu gehen und sich in eine unbekannte Richtung zu verflüchtigen."
"Behörden bringen Katastrophe immer näher"
Ganz anders urteilt der kremlkritische Ökonom Igor Lipsits: "Die riesigen Mittel, die jährlich aus dem Haushalt für die Erneuerung der Versorgungsnetze bereitgestellt werden, absorbiert der bürokratische Apparat höchst erfolgreich, ohne dass sich das in irgendeiner Weise auf den tatsächlichen Zustand der Netze auswirkt, die weiterhin vor sich hin altern und zusammenbrechen. Der Grund für solche selbstzerstörerischen 'wirtschaftlichen' Aktivitäten ist Korruption, die seit eh und je nicht besiegt werden kann. Sie ist die tragende Säule des Staates."
Um die Korruption zu beseitigen und eine neue Infrastruktur zu schaffen, die die fast zusammengebrochene alte ersetze, müsse der Staat verändert werden, was ohne einen Regierungswechsel nicht möglich sei, so Lipsits: "Und da sich die Regierung im Land nicht ändern wird und alle Versuche, sie zu ändern, harsch unterdrückt, ist die kommende kommunale Katastrophe unausweichlich. Ihr Ausmaß ist erschreckend, aber anstatt nach Wegen zur Lösung zu suchen, bringen die Behörden sie durch ihr Handeln immer näher."
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