Für Wladimir Putin sei der Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin natürlich "keine Konkurrenz", beteuerte Kremlsprecher Dmitri Peskow kürzlich. Er lässt seit langem keinen Zweifel daran, dass Putin bei der Präsidentschaftswahl vom 15. bis 17. März mit großem Abstand gewinnen wird und sagte ein Ergebnis von 90 Prozent voraus. Im vergangenen August wurde Peskow von der "New York Times" mit der Äußerung zitiert, Russland sei eigentlich gar keine Demokratie, weswegen er Wahlen für nichts anderes als "teure Bürokratie" halte, was er wohl als Geldverschwendung verstanden wissen wollte. Im Nachhinein behauptete Peskow damals, er sei "falsch verstanden" worden, gleichwohl würden sich die Russen "absolut beispiellos um den Präsidenten scharen". So gut wie niemand stellt in Frage, dass Putin zwischen 80 und 90 Prozent der Stimmen erhalten wird, auf welche Weise auch immer, aber dem Kreml ist natürlich wichtig, dass möglichst viele Russen abstimmen. Zu dieser Art "Scheindemokratie" gehören Alternativkandidaten, aber ob der Kriegsgegner Boris Nadeschdin dazugehören wird, erscheint fraglich.
"Ich bin kein Schausteller"
Laut russischem Wahlgesetz können Parteien, die im Parlament vertreten sind, Kandidaten aufstellen. Außerparlamentarische Bewegungen müssen für ihre Kandidaten mindestens 100.000 Unterschriften sammeln, auch Nadeschdin. Nach eigenen Angaben hat er die Hürde genommen, wobei völlig unklar ist, ob die zuständige Wahlkommission die Unterschriften akzeptiert oder, wie nicht wenige annehmen, nach "intensiver Prüfung" behauptet, es seien zu wenige davon "gültig". Der in Taschkent geborene Nadeschdin hält die Beendigung des Krieges für sein "Kernanliegen" und traf sich auch bereits mit Soldatenmüttern, die die baldige Rückkehr ihrer Söhne forderten. Nadeschin saß früher im Parlament, ist derzeit aber nur Stadtrat.
Weil er sich zeitweise im russischen Staatsfernsehen als "Abweichler" wüst beschimpfen ließ, sagte der Politiker mal: "Einige Leute halten mich für einen Prügelknaben [in diesen Sendungen], während andere denken, ich sei ein gefährlicher Verrückter, der die Wahrheit sagt." Tatsächlich sei er ein "professioneller Politiker, kein Schausteller". Gleichwohl müssen er und der Kreml sich des Verdachts erwehren, Nadeschdin sei nichts weiter als ein von Putin ferngesteuerter Pseudo-Oppositioneller. Peskow wollte sich dazu nicht direkt äußern und verwies ersatzweise an die zuständige Wahlkommission. Generell müsse sich kein potentieller Präsidentschaftskandidat mit dem Kreml "abstimmen", wenn er "bestimmte Kriterien" erfülle.
"Jetzt ist nicht die Zeit für Experimente"
Der im Exil lebende russische Politologe Abbas Galljamow behauptet, angesichts der "enormen Ermüdung" des Putin-Regimes könnten Nadeschdin und ähnliche Politiker "wirklich das gesamte System zerstören": "Demonstrativ moderate und regierungsunabhängige Politiker sind vor dem Hintergrund des Regimewahnsinns wie ein Hauch frischer Luft für die Bürger, im wahrsten Sinne des Wortes fällt ein 'Lichtstrahl in ein dunkles Königreich'." Andererseits bekommt Nadeschin laut russischer Statistiken im Fernsehen gerade mal 0,6 % der Sendezeit, die für den "Wahlkampf" reserviert ist. Putin nimmt angeblich 78,5 % in Anspruch, der kommunistische Kandidat immerhin 6,6 %, was Experten zufolge zeigt, welche mediale Rangordnung der Kreml vorgesehen hat.
Polit-Blogger verweisen zwar auf die langen Schlangen vor den Wahlkampf-Büros, in denen die Russen für Nadeschdin unterschreiben können, glauben aber nicht, dass er antreten darf. So schreibt der viel gelesene Kolumnist Dmitri Drise, es gehe dem Regime vielmehr darum, im Vorfeld der Wahl die "Proteststimmung" zu messen: "Tatsächlich hat Nadeschdin seine Rolle bereits gespielt. Es kann sehr gut sein, dass seine Aufgabe darin bestand, zu verfolgen, wie unzufrieden die Opposition ist und ob ähnlich gesinnte Wähler bereit sind, sich um einen 'halbsystemischen' Kandidaten zu scharen. Offenbar gibt es tatsächlich einen solchen Trend. Das bedeutet, dass für Boris Borissowitsch [Nadeschdin] offenbar nicht vorgesehen ist, am Wahlkampf teilzunehmen. Jetzt ist nicht die Zeit für solche Experimente." Die einzige Oppositionskraft, die im Kreml Gnade finde, seien die Kommunisten.
"Nicht mehr klar, wer wen kontrolliert"
Dissident Boris Wischnewski aus St. Petersburg von der kremlkritischen Jabloko-Partei warnte gar, Nadeschin sei "Loyalist" und habe zwei Jahre zum Krieg geschwiegen: "Ich rate dringend davon ab, für ihn zu unterschreiben. Ich kenne seine politische Biografie, seinen politischen Ruf gut. Der Mann hat neun Mal die Partei gewechselt." Andere Blogger wie die Journalisten Farida Rustamowa und Maxim Towkailo (64.000 Fans) wollten von einem "hochrangigen Beamten" im Kreml erfahren haben, dass es für Putin taktisch immer noch am besten wäre, einen Kriegsgegner zuzulassen und triumphal zu besiegen: "Höchstwahrscheinlich besteht der Plan des Kremls zum Teil genau darin, ebenso wie in einer Erhöhung der Wahlbeteiligung. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass die politischen Verantwortlichen damit gerechnet haben, dass ihr politisches Projekt nicht nach Plan verlaufen würde und eine solche Reaktion bei den Kriegsgegnern in Russland hervorrufen würde. Dank dieser Bewegung ist nicht mehr klar, wer wen kontrolliert: die Verwaltung des Präsidenten den politischen Prozess oder umgekehrt."
Die Warteschlangen für Nadeschdin hätten sich "wie auf Befehl" gebildet, behauptet der kremltreue Blogger und selbst ernannte "Stratege" Andrej Bogdanow. Vermutlich seien "alle Leute bezahlt worden". Dagegen schreibt Augenzeuge Dmitri Kolesew, der als "ausländischer Agent" gebrandmarkt wurde: "Jeder will Veränderung! Die örtliche Warteschlange [in Moskau] besteht hauptsächlich aus Studenten und Doktoranden. Neben Studenten gibt es Kleinunternehmer, Blogger, Büroangestellte, betagte Rentner (einige). Sogar die strengen Gesichter des Militärs oder der Sicherheitskräfte fielen auf (ich gehöre selbst dazu, deshalb kann ich sie identifizieren)." Meist seien Menschen unter 35 dabei.
"Wie ein Magnet"
Politologe Andrej Nikulin ist überzeugt, dass die Opposition trotz vieler Unterschriften für Nadeschdin einen "weiteren schweren Kater" erleiden werde. Das habe er bereits am "skeptischen Gesichtsausdruck" der Leiterin der Wahlkommission abgelesen und deren Rat, man möge sich beim nächsten Mal "besser vorbereiten, wie man richtig Unterschriften sammelt". Der kremlnahe Politikwissenschaftler und Propagandist Sergej Markow wollte eine "Sublimation des Protests" erkennen: "Der Kreml findet legale und akzeptable Wege, sich dem Regime zu verweigern." Markow postete auch einen angeblich an ihn gerichteten Leserkommentar: "Boris Nadeschdin spielt eine wichtige gesellschaftliche Rolle. Wie ein Magnet zieht er eine Menge Alteisen an, und dieses Metall kommt dann in den richtigen Ofen."
Der ganze Wirbel sei nötig gewesen, um die wenigen verbliebenen "Liberalen" im Land wenigstens ansastzweise für den "Wahlkampf" zu interessieren, argwöhnt ein Blogger. Vermutlich nutze der Kreml die Unterschriften für den von ihm gesteuerten "Golem" Nadeschdin gar, um vergleichsweise bequem eine schwarze Liste der verbliebenen Putin-Gegner anzufertigen.
Ist der "Showteil" vorbei?
Star-Kolumnistin Ekaterina Winokurowa bilanziert nüchtern, der "Showteil" des Wahlkampfs werde bald enden: "Natürlich wird es im Falle einer Ablehnung der Registrierung [von Nadeschdin] keine Proteste geben, und niemand wird den Wahlkampf des Hauptkandidaten bedrohen und hatte auch nur je die Absicht, ihn zu gefährden. Die 100.000 gesammelten Unterschriften sind nur eine Erinnerung daran, dass es Menschen im Land gibt, die das Geschehen stillschweigend nicht gutheißen, während es ihnen völlig an öffentlichen Figuren und dem rechtlichen Rahmen mangelt, ihre Position innerhalb des Landes zu äußern. Es ist ein großer Fehler, so zu tun, als ob sie nicht existieren oder dass sie alle Schurken sind, die vernichtet werden müssen."
Im Video: Erlaubt Putin einen Anti-Kriegs-Kandidaten?
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