Der Regionalpolitiker im Januar 2023 bei einem Treffen mit Putin
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Hat Probleme: Baschkortostans Gouverneur Radiy Kabirow

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"So zerfiel die Sowjetunion": Unruhen stören Putins "Wahlkampf"

Ausschreitungen in einer abgelegenen Kleinstadt im Ural stellen Putins Behauptung von der "Geschlossenheit" der russischen Gesellschaft in Frage. Sicherheitskräfte reagierten mit Gewalt: "Die Behörden legen selbst die Bombe unter der Führung."

Über dieses Thema berichtet: BR24 am .

"Was jetzt geschieht, nämlich der Zusammenhalt unserer Gesellschaft, die Stärkung unserer Wirtschaft nicht nur der Landwirtschaft, sondern auch der Industrie, die Steigerung des Potenzials der Streitkräfte, ist für den Feind eine völlige Überraschung. Eine vollständige und absolute", behauptete der russische Präsident Wladimir Putin bei einem Treffen mit Kommunalpolitikern. Wenig verwunderlich, dass er vor der Präsidentschaftswahl im März den Eindruck erwecken will, das ganze Land stehe hinter ihm und seinem Angriffskrieg auf die Ukraine. Doch jetzt muss sich der Kreml mit für ihn äußerst unangenehmen Schlagzeilen aus der abgelegenen Region Baschkortostan im südlichen Ural auseinandersetzen. Dort kam es in der Kleinstadt Baimak zu massiven Ausschreitungen, bei denen die Sicherheitskräfte nach Angaben von Augenzeugen Tränengas und Rauchbomben einsetzen mussten.

Ob es 1.000, 5.000 oder 10.000 Menschen waren, die rebellierten, ist umstritten und auf Videos in den sozialen Netzwerken nicht genau auszumachen. Protestteilnehmer sollen Sicherheitskräfte eingekesselt und nach "Freiheit" gerufen haben. Ein eilig herbeigerufener Imam soll nach den Informationen eines der größten russischen Telegram-Kanäle im Exil ("SOTA" mit 120.000 Fans) vergeblich den Abzug der Demonstranten verlangt haben.

"Lage spitzt sich zu"

Grund für die Unruhen: Ein Gerichtsverfahren gegen den Umweltaktivisten Fail Alsinow, der sich seit Jahren gegen die Ausweitung des Bergbaus am Kuschtau-Gebirge südlich der Regionalhauptstadt Ufa einsetzt. Der Höhenzug wird von Einheimischen als "heilig" und besonders schützenswert verehrt. Alsinow wurde allerdings nicht wegen seines Umwelt-Engagements, sondern wegen "Aufstachelung zu ethnischem Hass" zu vier Jahren Haft verurteilt, weil er aus Sicht der Behörden bei einem öffentlichen Auftritt in baschkirischer Sprache Bewohner des Kaukasus, Zentralasiens und Armenier beleidigt haben soll. Der Anwalt des Aktivisten sprach dagegen von "Übersetzungsfehlern". Russische Exilmedien mutmaßten, Gouverneur Radij Kabirow persönlich habe auf Rache gesonnen, nachdem ihm der Aktivist im Jahr 2020 zumindest vorübergehend lukrative Einnahmequellen im Bergbau entzogen habe.

Wie auch immer: Während die Behörden rabiat vorgingen, Telegram-Kanäle sperrten und die örtliche Online-Kommunikation einschränkten, entbrannte im Netz eine hektische Debatte über Ursachen und Folgen der Vorkommnisse. "Die Lage in Baschkortostan spitzt sich zu", meinte Politologe Abbas Galljamow, der einst selbst in der Gegend politisch tätig war und jetzt im Ausland lebt: "Das bedeutet nicht, dass das dortige Regime jetzt gestürzt wird, aber es bedeutet, dass die Behörden bei der Unterdrückung der Unzufriedenheit sehr hart vorgehen müssen, was wiederum die Folge hat, dass sich viele schmerzhafte Erinnerungen beim Volk festsetzen." Auf diese Weise sei einst die Sowjetunion zusammengebrochen, behauptete Galljamow, denn die russischen Völkerschaften hätten ein langes Gedächtnis: "Die Behörden selbst legen nun eine Bombe unter der Führung Russlands."

"Macht es das wirklich einfacher?"

Der Politologe machte sich darüber lustig, dass kremlnahe Politiker prompt "amerikanische Wühlarbeit" für die Unruhen verantwortlich machten: "Das ist Baimak, fast 500 Kilometer von Ufa entfernt, durch Wälder und Berge isoliert." Daneben verwies Galljamow darauf, dass einige Baschkiren in ihren Online-Videos bereits ein Ende des Krieges forderten: "Vom ersten Tag an habe ich gesagt, dass dieser Krieg in den nationalen Republiken als Krieg anderer Leute wahrgenommen wird."

Polit-Blogger Michail Winogradow fragte sich und seine Leser: "In einer Situation, in der massenhafte Protestaktionen allesamt verboten sind, nimmt die Bedeutung und politische Tragweite jeder (auch noch so kleinen) Aktion spürbar zu. Ist das gut? Macht es das wirklich einfacher? Stellt es die Zentrale nicht vor die schwierige Entscheidung gar nicht zu reagieren und damit Zweifel an der eigenen Stärke und Zähigkeit zu wecken oder zu reagieren und damit auf die Tagesordnung anderer einzugehen, egal ob Zähne gezeigt werden oder gefeilscht wird?" Winogradow kritisierte das "simple Weltbild", das der Kreml verbreite, in dem immer nur vom "ständigen Aufstieg und Konsens" in Russland die Rede sei, während Russland als ganzes nicht nur von inneren und äußeren Widersprüchen geprägt sei, sondern die einzelnen Regionen aus historischen Gründen auch genug "eigene Ungleichgewichte und Neurosen" entwickelt hätten.

"Könnte zur schweren ideologischen Krise führen"

"All das zeigt deutlich, dass das höchste Maß an Protest und Widerspruch mittlerweile nicht in den Groß- und Hauptstädten unter gebildeten Bürgern mit überdurchschnittlichem Einkommen herrscht, sondern im russischen Outback", urteilte der aus Baschkirien stammende Philosophie-Professor Dmitri Michailitschenko: "Für die gebildeten und relativ wohlhabenden Menschen gibt es eine Möglichkeit abzureisen, aber die Bewohner des Outbacks können nirgendwo hingehen."

Mit Blick nach Baimak fasste ein Blogger mit 52.000 Abonnenten die Lage ähnlich wie Galljamow zusammen: "Wie Sie wissen, beginnt alles im Kleinen. Die Menschen sind gerade im wahrsten Sinne des Wortes nervös: Jedes harte Verhalten der Sicherheitskräfte kann unvorhersehbare Folgen haben. Im Fernsehen werden Märchen über die Geschlossenheit verbreitet, aber in Wirklichkeit sieht es so aus."

Andere verwiesen darauf, dass Putin zwar sehr daran gelegen sei, die traditionellen, ja teilweise reaktionären Wertvorstellungen der Provinzbevölkerung zum Maßstab seiner Propaganda zu machen, es jedoch lediglich bei rein rhetorischen Absichtserklärungen geblieben sei. Kaum ein Spitzenpolitiker verirre sich in den Outback, dadurch entstehe auf die Dauer ein Glaubwürdigkeitsproblem: "Wenn man all das berücksichtigt, kann eine solche Situation nicht ewig andauern, denn ohne echte Maßnahmen zur Untermauerung dieser aktiv betriebenen Rhetorik besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit der Enttäuschung bei einigen der 'einfachen Menschen', die bei ihnen Zweifel an der Fähigkeit der Behörden aufkeimen lässt, dass sie wirklich auf diese Menschen zugehen. Das könnte in Zukunft zu einer schweren ideologischen Krise führen."

"Einfaches Volk wird nur als Infanterie an der Front gebraucht"

Der Gouverneur von Baschkortostan, Radij Kabirow, habe "große Probleme", war in einer der Analysen zu lesen, und zwar politische wie ethnische und soziale: "Heute schlagen regionale Sicherheitskräfte vor dem Gericht in Baimak auf einfache Menschen ein und halten sie brutal fest – die 'Atomkernwählerschaft' von Wladimir Putin. Warum musste das alles mitten im Wahlkampf provoziert werden, um die ohnehin schon fragwürdige Strafe für den Umweltaktivisten aus der Sicht der Bevölkerung noch zweifelhafter zu machen? Eine Frage, die Kabirow noch nicht beantwortet hat."

Die politische Bedeutung des gemeinen Mannes für den Kreml werde "überschätzt", meinte ein anderer meinungsfreudiger Politologe: "Heutzutage braucht der Kreml das einfache Volk nur noch als Infanterie an der Front. Aber als Bürger oder Wähler werden sie nicht benötigt. Und die Beamten können mit diesen schlicht gestrickten Gefangenen machen, was sie wollen – sie sogar in Wohnungen ohne Heizung und Licht bei minus 30 einfrieren, sogar deren Großmütter anrufen und beschimpfen, wenn sie plötzlich die Demobilisierung ihrer Verwandten fordern. Deshalb wird Kabirow nichts passieren – die Loyalität zur Nomenklatura ist den Behörden wichtiger als die Zufriedenheit/Unzufriedenheit der Bevölkerung. Unser Volk wird nicht als handelndes Subjekt betrachtet."

"Tödliche Gefahr für das Regime"

Eindeutig hätten sich die Proteste von den Großstädten in die Provinz verlagert, hieß es in einem Blog, der gleichzeitig darauf aufmerksam machte, dass es meist lokale Ursachen dafür gebe: "Vielleicht ist das die größte nicht mit den Behörden abgesprochene Massenkundgebung der letzten Jahre. Selbst Fail Alsinow hatte nicht damit gerechnet, dass so viele Menschen, fast ein Drittel der Einwohner der Stadt, ihn unterstützen würden. Alsinow verteidigt nicht nur den Kuschtau-Berg, sondern setzt sich auch für die Erhaltung der baschkirischen Sprache in der Republik ein." Damit habe er die "Herzen vieler Anwohner" erreicht.

Fast gleichlautend behauptet ein Blog mit 153.000 Abonnenten: "Wenn in Russland Reste bürgerlichen Bewusstseins erhalten geblieben sind, dann nur in den nationalen Republiken. Sie sind diejenigen, die die größte Bedrohung für die Regierung darstellen. Daher ist die Versuchung des Kremls groß, auch sie in den Eiskeller der Repression zu schicken. Aber hierin liegt eine große, sogar tödliche Gefahr für das Regime. Jetzt sind sie natürlich immer noch in der Lage, die Feder bis zum Äußersten zusammenzudrücken, aber sie muss festgehalten werden, und der Griff ist auf Dauer nicht mehr derselbe. Die Feder, in der sich einst enormer Hass auf die Behörden angesammelt hat, wird ihre Energie notwendigerweise im ungünstigsten Augenblick entladen und mit enormer Kraft über die endlosen Weiten unseres riesigen Vaterlandes springen."

Kremlnahe Kreise sprechen von "Islamismus"

Ekaterina Winokurowa, Chefkolumnistin eines der größten russischen News-Portale, zitierte hochrangige, kremlnahe Gesprächspartner, wonach es sich bei den Protestierenden überwiegend um "religiöse Extremisten" handle, "obwohl es unter ihnen auch normale Menschen" gebe. Demnach will der Kreml den Vorfall in Baimak als islamistische Aktion dargestellt wissen, die "für die Region untypisch" sei. Dafür sei in erster Linie der verstorbene baschkirische Machthaber Murtasa Rachimow (1934 - 2023) verantwortlich, der seinerzeit den "nationalistischen" Extremismus gefördert habe, um "Moskau einzuschüchtern". Der jetzt verantwortliche Gouverneur Kabirow werde in der Hauptstadt wohl "ernste Gespräche" führen müssen, sei aber nicht unmittelbar vom Rauswurf bedroht, obwohl er "nicht als stabile Führungskraft" gelte.

"Zunehmende soziale Unzufriedenheit"

Für Putin kann es kaum ein Trost sein, dass nicht nationale, sondern eher örtliche Probleme die Leute auf die Straße treiben, meinen russische Sozialforscher. Sie machen die zahlreichen "Ausfälle" in der Wärmeversorgung zum Thema, die ebenfalls Proteste auslösten, und schreiben: "Anders als beispielsweise bei chronischen Problemen der regionalen Gesundheitsversorgung führen Ausfälle im Wohnungsbau und im kommunalen Dienstleistungssektor dazu, dass Tausende von Menschen sofort zu Trägern sozialer Unzufriedenheit werden und regionale und föderale Behörden mit Beschwerden überschwemmen (wie kürzlich in der Region Moskau und in Lipezk, Twer, Tula und andere Regionen geschehen). Auf die eine oder andere Weise müssen die regionalen Verwaltungen die Initiative ergreifen, oder die Strafverfolgungsbehörden werden es tun." Es gelte, sich auf "zunehmende soziale Unzufriedenheit" einzustellen.

Putin: "Mehr ungelöste als gelöste Probleme"

Immerhin: Putin persönlich behauptete gegenüber den oben erwähnten Kommunalpolitikern zur allgemeinen Verblüffung, in Russland gebe es derzeit "mehr ungelöste als gelöste Probleme". Er habe sehr wohl bemerkt, dass es Leute gebe, die ihn deshalb ausdrücklich nicht wiederwählen wollten: "Es gibt viele Menschen, die besondere Aufmerksamkeit von uns verdient haben. Ja, wir haben die Zahl der Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, größtenteils leicht reduziert, aber es gibt immer noch viele von ihnen. Ja, unsere Reallöhne und realen verfügbaren Einkommen sind leicht gestiegen, aber es gibt immer noch viele Menschen, die auf einem sehr bescheidenen Niveau leben, insbesondere Familien mit Kindern. Auf keinen Fall sollten wir jede an uns gerichtete Kritik übelnehmen, sondern sie als Leitfaden zum Handeln begreifen. Wir müssen den Menschen dafür dankbar sein, dass sie den Problemen Aufmerksamkeit schenken, die wir noch nicht gelöst haben."

Übrigens macht Putin in diesen Tagen auch außenpolitisch eine "schwere" Zeit durch. Während er sich mit der nordkoreanischen Außenministerin traf, um das "bilaterale Verhältnis" zu verbessern und einen Besuch in Nordkorea vorzubereiten, hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj beim Weltwirtschaftsforum in Davos einen viel beachteten Auftritt. Eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse, die den Kreml nicht gerade mit "Weltläufigkeit" glänzen lässt.

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